Kyōto: Die tausendjährige Stadt

Maria-Laura Mitsuoka
Maria-Laura Mitsuoka

Kyōto ist eines der beliebtesten Reiseziele der Welt: Allein 2023 besuchten 75 Millionen Reisende die malerische Stadt nahe dem legendären Biwa-See. Im Gegensatz zu Tōkyō, das erst in der Edo-Zeit durch Tokugawa Ieyasu bedeutsam wurde, blickt Kyōto auf eine lange Geschichte von mehr als tausend Jahren zurück.

Holzschnitt von Utagawa Hiroshige (
Holzschnitt von Utagawa Hiroshige (1852): Er zeigt eine Szene des Genji Monogatari, welches als der erste Roman der Welt bezeichnet wird. © CPA Media Pre Ltd / Alamy Stock Photo

Die Geschichte Kyōtos beginnt in der Heian-Zeit (794-1185) unter dem Stadtnamen Heian-kyō, als Kaiser Kammu im Jahr 794 die Hauptstadt von Nara dorthin verlegte. Damit sollten in erster Linie der kaiserliche Hof politisch gestärkt und die Kontrolle über die Regierungsgeschäfte zurückgewonnen werden, denn Nara war im Laufe der Zeit stark von buddhistischen Tempeln und deren Einfluss dominiert worden. Nichts blieb beim Bau von Heian-kyō dem Zufall überlassen, wollte man doch den Grundriss nach dem chinesischen Vorbild der Tang-Dynastie gestalten. So wurde die von malerischen Bergketten umschlossene Stadt schachbrettartig angelegt, wobei der Daidairi, der kaiserliche Palast, im Zentrum stand. Dieses Stadtbild sollte die kosmische Harmonie widerspiegeln und gleichzeitig die Verwaltung effizienter machen.

Mit dem Bau Heian-kyōs erreichte Japan einen neuen kulturellen Höhepunkt. Es entwickelte sich eine höfische Hochkultur, in deren Rahmen bedeutende literarische Werke wie das Genji Monogatari von Murasaki Shikibu oder das Kopfkissenbuch von Sei Shōnagon entstanden. In der aristokratischen Gesellschaft florierten raffinierte Traditionen und Bräuche, die den Grundstein für Japans einzigartige Lebensart legten. So wurde die Kunst der Kalligrafie, die ursprünglich mit dem aus China stammenden Buddhismus eingeführt wurde, mit der Entwicklung von Kana-Schriftzeichen neu erfunden. Bei poetischen Veranstaltungen fanden außerdem die lyrischen Formen des Renga (Kettengedichte) und Waka (japanische Dichtkunst) ihren Ursprung. Auch die Teezeremonie sowie Spiele wie Kemari (eine Art Fußball) und Shōgi (japanisches Schach) erfreuten sich beim Adel großer Beliebtheit. Zeitgleich gedieh Heian-kyō zu einem wichtigen religiösen Zentrum und förderte den Bau von Tempeln und Schreinen wie dem Kiyomizu-dera und dem Heian-jingū.

Kriegerische Unruhen 

Doch schon bald stand die kulturelle Hochblüte vor einem großen Hindernis, denn kriegerische Unruhen und politische Machtkämpfe schwächten den kaiserlichen Hof. Der Fujiwara-Clan, der durch eine geschickte Heiratspolitik die Kontrolle über die innerstaatlichen Angelegenheiten übernommen hatte, litt unter internen Konflikten, wodurch auch der Kaiser enorm an Einfluss verlor. Außerdem hatten kleinere Adelsfamilien, die für deren Verwaltung in weit entfernte Gebiete des Landes geschickt worden waren, in der Zwischenzeit militärische Truppen aufgestellt, von denen der kaiserliche Hof zunehmend abhängig wurde. Einflussreiche Kriegerclans wie die Taira und die Minamoto nutzten diese Entwicklung, um ihre eigene politische Agenda zu verfolgen. Die Kämpfe zwischen den beiden Parteien gipfelten schließlich im Genpei-Krieg (1180-1185), bei dem der Minamoto-Clan siegreich hervorging. Mit der Gründung des Kamakura-Shōgunats unter Minamoto no Yoritomo im Jahr 1192, wurde ein neues Zeitalter der Militärregierung eingeleitet. Heian-kyō blieb zwar weiterhin die kaiserliche Hauptstadt, in der der Kaiser eine repräsentative Rolle innehatte – die tatsächliche Regierungsgewalt lag jedoch beim Shōgunat in Kamakura.

Szenen des Genpei-Krieges: Der Minamoto-Soldat Kumagai Naozane besiegt Taira no Atsumori in der Schlacht von Ichi-no-Tani 1184. © Science History Images / Alamy Stock Photo

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Wenn aus Kriegsasche Kunst gedeiht

Bald stand Heian-kyō, das ab dem 11. Jahrhundert ausschließlich Kyōto (wörtlich „Hauptstadt“) genannt wurde, wieder im Fokus der Ereignisse: Denn mit der Kemmu-Restauration 1333 verlegte Kaiser Go-Daigo das politische Zentrum nach einem Intermezzo von 140 Jahren zurück in die Hauptstadt. Prominente Samurai wie Ashikaga Takauji und Nitta Yoshisada schlossen sich Go-Daigos Rebellion an, nachdem sie sich durch das bestehende System des Kamakura-Shōgunats benachteiligt fühlten. Die Pläne des Kaisers führten jedoch bald zu Spannungen mit Takauji, die 1336 in der Schlacht von Minatogawa gipfelten. Takauji, der Sieger des Konflikts, errichtete das Ashikaga-Shōgunat im Kyōtoer Distrikt Muromachi und leitete eine zweite kulturelle Renaissance ein, die als Kitayama-Kultur bekannt wurde. Dazu zählten die Förderung des Nō-Theaters, der Teezeremonien und der Zen-Gärten sowie der Bau des Goldenen und Silbernen Pavillons.

Kaiser Go-Daigo nach einem Holzschnitt von Ogata Gekkō (1890): Nach der gescheiterten Rebellion floh Go-Daigo in die Yoshino-Berge bei Nara. © Artefact / Alamy Stock Photo

Mit dem Anbruch des 15. Jahrhunderts nahm die Geschichte Kyōtos erneut eine entscheidende Wendung, denn Erbstreitigkeiten im Ashikaga-Shōgunat und die Rivalität zwischen den Kriegerfamilien Hosokawa und Yamana destabilisierten die politische Lage. Diese Fehde kulminierte im Ōnin-Krieg (1467-1477), die große Teile der Stadt verwüstete und die turbulente Sengoku-Zeit (1467-1603) einläutete. Handel und Produktion kamen zum Stillstand, viele Menschen wurden obdachlos und verarmten. Die Adligen flohen in andere Landesteile, sodass sich die kulturellen Errungenschaften der Hauptstadt auch außerhalb verbreiteten.

Das Zeitalter der Ashikaga endete im Jahr 1573, als Ashikaga Yoshiaki vom Kriegsherren Oda Nobunaga aus Kyōto vertrieben wurde. Letzterer verfolgte das Ziel, Japan unter seine politische Herrschaft zu bringen und verlegte daher sein Hauptquartier von Gifu in die Burg Azuchi am Biwa-See, um Einfluss auf Kyōto ausüben zu können. Nach Nobunagas Tod 1582 setzte Toyotomi Hideyoshi sein Werk fort und errichtete in der Hauptstadt die Burg Momoyama (auch Burg Fushimi genannt), die schließlich der Azuchi-Momoyama-Zeit (1568-1600) ihren Namen verlieh. Mit dem Aufstieg von Oda Nobunaga und Toyotomi Hideyoshi begann für Kyōto eine Phase des Wiederaufbaus und der Stabilisierung. Insbesondere Hideyoshi spielte eine entscheidende Rolle bei der Neuerfindung der Stadt und förderte den wirtschaftlichen Aufschwung. Unter seiner Leitung entstanden Prachtbauten wie die Burg Nijō, außerdem unterstützte er traditionelle Künste und Handwerke.

Kyoto Bahnhof
Der Goldene Pavillion, oder Kinkaku-ji, ist ein buddhistischer Tempel und Symbol von Kyōtos kultureller Blütezeit im 14. Jahrhundert. © Photo AC / りんちゃんさん

Verlust der politischen Macht

Als schließlich Tokugawa Ieyasu die Macht übernahm und 1603 den Sitz des Tokugawa-Shōgunats in Edo (dem heutigen Tōkyō) errichtete, verlor Kyōto offiziell seine politische Relevanz. Trotzdem spielte es weiterhin eine wichtige Rolle: Es blieb nicht nur Residenz des Kaisers, der eine symbolische und zeremonielle Funktion hatte, sondern erlebte in der Edo-Zeit (1603-1868) auch eine erneute Blütephase. Viele berühmte Landschaftsgärten, darunter der Steingarten des Ryōan-ji-Tempels, sowie die Produktion hochwertiger Seidenkimonos verhalfen Kyōto zu neuem Glanz. Auch im Bereich der Kunst blieb die Stadt landesweite Vorreiterin, denn das Kabuki-Theater und die Geishas genossen einen ikonischen Ruf. Kyōto blieb weiterhin das religiöse Herzstück und zog mit seinen bedeutenden Tempeln und Schreinen Pilgernde aus allen Teilen des Landes an.

Wie ganz Japan erlebte auch die Kaiserstadt während der Meiji-Zeit (1868-1912) tiefgreifende Veränderungen, da der Übergang in eine moderne Industrienation gleichzeitig die Macht des kaiserlichen Hofes wiederherstellte. Kaiser Meiji verlegte seine Residenz nach Tōkyō und ernannte die wirtschaftlich rasant wachsende Metropole zur neuen Hauptstadt. Kyōto wurde auf religiöser und kultureller Ebene zwar nach wie vor große Bedeutung beigemessen, doch der politische Einfluss war verloren.

Mit der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie zwischen Kyōto und Ōsaka 1877 wurde die Stadt endlich auch wirtschaftlich in das moderne Japan integriert. So konnte der traditionelle Handel in den globalen Markt einfließen. Gleichzeitig bewahrte sie durch die intensive Instandhaltung der Stätten ihr kulturelles Erbe, was zu einer ausgeprägten Identität und wachsenden Touristenzahlen beitrug. Mit der Gründung der Kaiserlichen Universität im Jahr 1897 wurde Kyōto auch zu einem wichtigen Zentrum für Bildung und Forschung. Der Ausbau der Infrastruktur trug zum Bevölkerungsanstieg sowie zur Erweiterung des Stadtgebiets bei.

Vom Zweiten Weltkrieg zur Gegenwart

Während des Zweiten Weltkriegs blieb Kyōto weitgehend von Bombenangriffen verschont, vor allem aufgrund seiner historischen Reichtümer und kulturellen Bedeutung. So schrieb der amerikanische Kriegsminister Henry L. Stimson 1945 in sein Tagebuch: „Wenn man diese Stadt als mögliches Ziel der Bombe mit einbezog, dann musste ein solcher Akt der Mutwilligkeit noch lange Zeit nach dem Krieg bei den Japanern eine solche Verbitterung hervorrufen, dass sie sich eher noch mit den Russen als mit uns abfinden würden.” Dennoch trug die Stadt zu den Kriegsanstrengungen bei, indem ihre Industrie Kriegsausrüstung und Munition herstellte, und viele Bürger:innen sich bereit erklärten, die japanische Armee zu unterstützen.

Nach dem Krieg profitierte Kyōto von der unbeschädigten Infrastruktur und erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung. Besonders die Kaiserliche Universität spielte eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau des Landes, förderte die wissenschaftliche Forschung und trug zur technologischen Entwicklung bei. Neue Stadtteile entstanden, während Traditionen und Kultur gleichzeitig bewahrt wurden.

Eine moderne Metropole: Mit einer Bevölkerung von ca. 1,4 Millionen Einwohnern zählt Kyōto heute zu den zehn größten Städten Japans. © Photo AC / dsphoto

Heute ist Kyōto eine lebendige Stadt mit einem harmonischen Zusammenspiel von moderner Entwicklung und traditionellem Erbe. Jährlich stattfindende Feste wie das Gion Matsuri und das Aoi Matsuri sind nach wie vor bedeutende religiöse Veranstaltungen, die tief in der Kultur der Stadt verwurzelt sind und einen Teil ihrer tausendjährigen Geschichte am Leben erhalten.

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Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST Oktober 2024-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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