Die Heian-Zeit (heian-jidai, 平安時代) wird mit der Verlegung der kaiserlichen Hauptstadt nach Heian (dem heutigen Kyōto) im Jahr 794 eingeleitet und endet mit der Errichtung des Kamakura-Shōgunats durch den Krieger Minamoto no Yoritomo 1185. Innerhalb dieser 400 Jahre durchlebte Japan viele politische und kulturelle Veränderungen, welche die Identität des Landes prägten und die ersten Schritte in die Richtung einer von Samurai dominierten Welt einleiteten. Eine kluge Heiratspolitik, literarische Errungenschaften und der Aufstieg mächtiger Kriegerfamilien machen diese Ära zu einer der interessantesten der japanischen Geschichte.
Der Weg nach Heian
Bevor der 50. Kaiser Kammu die Hauptstadt nach Heian verlegte, wurden alle politischen Entscheidungen in der Stadt Nara gefällt, die nach chinesischem Vorbild erbaut worden war. Die Nara-Zeit (710-794) war gekennzeichnet durch den wachsenden Einfluss der buddhistischen Religion sowie durch die zunehmenden Konflikte zwischen mächtigen Klosteranlagen und dem kaiserlichen Hof. Diese gefährdeten die traditionelle Machtverteilung und veranlassten Kaiser Kammu im Jahr 784 die Hauptstadt zunächst nach Nagaoka (heutige Präfektur Kyōto) und zehn Jahre später nach Heian zu verlegen, um die Autorität der buddhistischen Klöster endgültig einzuschränken.
Durch Heirat an die Macht
Zu Beginn der Heian-Zeit orientierte sich die Regierung noch stark am chinesischen Vorbild der Tang-Dynastie. Mit dem Ritsuryō-System, eine auf dem Konfuzianismus und chinesischem Legalismus basierende Verwaltung, deren Machtausübung dem Kaiser vorbehalten war, bemühte Kammu sich, sein Herrschaftsgebiet zu organisieren und zu kontrollieren. Seine Nachfolger eiferten ihm nach und hielten sich an die formalen Aspekte der Gesetzesbücher, sahen sich jedoch mit einer chaotischen Realität konfrontiert.
Durch den Rückgang der Staatseinnahmen bröckelte das System langsam, aber sicher auseinander und konnte trotz vieler Versuche, das chinesische Ideal aufrechtzuerhalten, nicht mehr getreu weitergeführt werden. Die Fujiwara, eine Adelsfamilie mit guten Beziehungen zum Kaiserhaus, spürten diesen Wandel und nutzten ihn zu ihrem Vorteil. Durch eine geschickte Heiratspolitik, bei der die Fujiwara ihre Töchter mit den regierenden Kaisern vermählten, konnte der Clan bald die politische Kontrolle an sich reißen und dem Kaiser die Alleinherrschaft entziehen.
Übernahme durch den Fujiwara-Clan
Als 858 ein minderjähriger Thronfolger die Herrschaft übernehmen sollte, ließ sich Fujiwara no Yoshifusa zum ersten sesshō in der japanischen Geschichte ernennen; ein Amt, das die Entscheidungsbefugnisse des noch unmündigen Regenten übernehmen sollte. Im Jahr 887 führte dessen Sohn Fujiwara no Mototsune den Rang des kanpaku ein, welcher die Rolle des Chefberaters eines erwachsenen Kaisers übernimmt. Dies erlaubte den Fujiwara, anstelle des Kaisers über das Land zu herrschen und die Macht durch Eheschließungen mit dem Kaiserhaus für viele Generationen weiterhin zu beanspruchen. Im Jahr 1086 verringerte sich jedoch der Einfluss des Fujiwara-Clans, als Kaiser Shirakawa sein Amt offiziell an seinen Sohn Horikawa abtrat, um selbst die politische Führung im Hintergrund zu übernehmen.
Der Aufstieg einer kriegerischen Elite
Die Vernachlässigung der politischen Angelegenheiten durch den kaiserlichen Hof zugunsten künstlerischer Interessen gab religiösen Sekten und schwächeren Adelsfamilien, die in der Vergangenheit zur Verwaltung abgelegener Landesteile weggeschickt worden waren, die Möglichkeit, ihren Einfluss auszuweiten. Durch die Einführung von Steuern konnten sie immer mehr Landgüter erwerben, so dass im 11. Jahrhundert viele dieser sog. shōen von aufstrebenden Familien verwaltet wurden. Außerdem verfügten die Großgrundbesitzer über genügend finanzielle Mittel und Ressourcen, um eigene Armeen zu befehligen.
Der kaiserliche Hof, dessen Streitkräfte schlecht ausgebildet waren, heuerte einflussreiche Kriegerfamilien wie den Taira-Clan und den Minamoto-Klan (ursprünglich entfernte Verwandte des Fujiwara-Klans) an, um Aufstände niederzuschlagen und Piraterie zu bekämpfen.
Mit den zunehmenden internen Konflikten innerhalb der Aristokratie am kaiserlichen Hof wurde die Rolle der Kriegerfamilien immer wichtiger. Einflussreiche Adlige baten sowohl die Taira als auch die Minamoto um militärische Unterstützung, um ihre Ziele durchzusetzen und sich Macht anzueignen. Diese Streitigkeiten setzten eine Reihe von Schlachten in Gang, welche die Rivalität zwischen den Taira und Minamoto anheizten. Im Jahr 1159/1160 eskalierten die Konflikte zwischen den beiden Kriegerfamilien und führten zum Heiji-Aufstand, bei dem Clan-Oberhaupt Minamoto no Yoshitomo getötet und seine Söhne Yoritomo und Yoshitsune von Taira no Kiyomori verbannt wurden. Dies schwächte den Minamoto-Clan immens, bedeutete aber noch lange nicht das Ende der Kämpfe.
Im Jahr 1180 forderte Minamoto no Yoritomo den feindlichen Clan heraus, um Rache zu üben. Fünf kriegerische Jahre, bekannt als die Genpei-Schlachten, vergingen, in denen die Minamoto durch das militärische Talent seines Bruders Yoshitsune in der Lage waren, die Taira zu vernichten, die endgültige Herrschaft zu beanspruchen und schließlich das 1185 Kamakura-Shōgunat zu errichten. Diese Veränderung führte zum Ende der Heian-Epoche und führte in ein durch die Kriegerelite dominiertes Zeitalter.
Kunst und Poesie, das Herz der Heian-Zeit
Als der kaiserliche Hof noch bestrebt war, dem chinesischen Vorbild gerecht zu werden, dominierten Kanji (chinesische Schriftzeichen), chinesische Poesie und Kunst den Alltag. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts jedoch, mit dem Zusammenbruch der Tang-Dynastie, konzentrierte sich Japan verstärkt auf die Innenpolitik und die eigene Kultur, wodurch neue Stilrichtungen eingeschlagen wurden.
Es entwickelten sich aus den Kanji die japanischen Silberschriften Hiragana und Katakana sowie japanischsprachige Werke. Das Taketori Monogatari („Die Geschichte des Bambussammlers“), besser bekannt als Kaguyahime no Monogatari („Die Geschichte der Prinzessin Kaguya“), war das erste Werk eines völlig neuen Genres, dem monogatari, einer märchenhaft-romantischen Erzählform. Die kaiserliche Elite war umgeben von literarisch versierten Hofdamen wie Murasaki Shikibu (Schöpferin des Genji Monogatari, „Die Geschichte vom Prinzen Genji“) oder Sei Shōnagon (Autorin des „Kopfkissenbuchs“), deren Werke auch heute noch den Höhepunkt der japanischen Literaturgeschichte darstellen. Gedichtsammlungen wie das Kokin-wakashū aus der frühen Heian-Zeit erfreuten sich ebenfalls großer Beliebtheit.
Mode der Heian-Zeit
Zudem veränderte sich im Laufe der Heian-Zeit die Mode. Das bekannteste Kleidungsstück ist das jūnihitoe oder „zwölflagige Gewand“, das von den ranghöchsten Damen des Kaiserhofs getragen wurde. Dabei variierte die Anzahl der Gewänder je nach Jahreszeit, Anlass und Rang zwischen zwei und zwanzig Lagen, die bis zu 18 kg erreichen konnten.
Die Kleidung der Männer erfuhr vorerst keine besonders großen Veränderungen: Gewänder und Roben variierten vor allem in Farbe und Design, die den Rang eines adligen Mannes definierten. Im 11. Jahrhundert jedoch kamen die agekubi-Männerroben (Roben mit aufgestelltem Kragen) der Nara-Periode aus der Mode – stattdessen wurden sie zur höchsten Stufe der zeremoniellen Kleidung für die kaiserliche Familie erhoben.
Obgleich die Heian-Zeit vor mehr als 800 Jahren endete, sind ihre Spuren noch immer in Japan zu finden. Bei vielen Festen wie dem Aoi Matsuri in Kyōto werden heute noch Heian-zeitliche Kostüme getragen und die Puppen, welche beim Hina Matsuri zur Schau gestellt werden, sind ebenfalls in die adligen Trachten des Kaiserhofs gehüllt. Auch Brettspiele wie Go und Shōgi oder das Fußballspiel Kemari stammen aus dieser Epoche und werden sicherlich auch in den kommenden Jahrhunderten im japanischen Kulturgedächtnis verankert bleiben.
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