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Das japanische Rechtswesen | Teil 9: Gerichte und Gerichtsprozesse in der Edo-Zeit

RA Mikio Tanaka, City-Yuwa Partners, Tokyo
RA Mikio Tanaka, City-Yuwa Partners, Tokyo

In diesem Beitrag soll das Gerichtssystem zur Zeit des letzten Shōgunates in der Geschichte Japans, dem Tokugawa-Shōgunat der Edo-Zeit, erläutert werden.

Takayama-Jin-ya
Takayama-Jin-ya 高山陣屋: In Gifu befindet sich das einzige heute noch erhaltene Behördengebäude der Edozeit mit Gerichtssäle im Inneren. Foto: Mikio Tanaka

Das Tokugawa-Shōgunat war das stabilste Shōgunat in der japanischen Geschichte und dauerte 265 Jahre an. Es begann 1603, als Tokugawa Ieyasu vom Kaiser zum ersten Shōgun ernannt wurde, und endete 1867 bzw. 1868 – 1867 gab der 15. Shōgun Tokugawa Yoshinobu die Herrschaft an den Kaiser zurück und 1868 wurde die Abschaffung des bakufu offiziell verkündet. Das Tokugawa-Shōgunat entstand nach der Wiedervereinigung Japans, die die Sengoku-Zeit beendete – die Zeit des Chaos, in der Japan von den größten Bürgerkriegen in seiner Geschichte erschüttert wurde (genauer gesagt: Die beiden Top-Helden der japanischen Geschichte, Oda Nobunaga und Toyotomi Hideyoshi, die Japan geeint haben, starben kurz bevor eine stabile Regierung gebildet werden konnte). Wie in den vorangegangenen Artikeln erläutert, handelte es sich beim bakufu um eine Militärregierung, die über eine Blankovollmacht des Kaiserhofs verfügte, welche es ihr ermöglichte, Japan zu regieren. In diesem Sinne war der Kaiserhof die entgültige Legitimationsgrundlage für die Herrschaftsmacht des bakufu.

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Anfangs hielt sich das Tokugawa-bakufu an diese seit der Zeit des Kamakura-bakufu bestehende Form. Auf der anderen Seite war Ieyasu sich auch durchaus bewusst, dass die Diskussion um die Legitimitätsgrundlage nur eine bloße Formalität war und dass es die militärische Macht gewesen war, die in der Zeit der „Streitenden Reiche“ das Land geeint und den militärisch machtlosen Kaiserhof aus der Not gerettet hatte. So beschränkte Ieyasu beispielsweise mit dem 1615 erlassenen Gesetz „Kinchū narabini kuge shohatto“ ganz offen die Befugnisse des Kaiserhofs – der eigentlich der Vollmachtgeber war – und verfügte, dass die wichtigste Aufgabe des Kaisers das Studium sei, um den Kaiser von der Macht fernzuhalten. Ferner wurde bestimmt, dass einige wichtige Positionen am kaiserlichen Hof, die traditionell mit hochrangigen Adligen besetzt wurden, nicht mit unfähigen Personen besetzt werden dürfen, selbst wenn diese aus guten Hause abstammen. Dies war ein offener Eingriff in die Personalangelegenheiten des Hofes.

Rechtskultur im Shōgunatszeitalter

Wie in Teil 6 dieser Reihe erläutert, war der wirtschaftliche Motor Ende des 12. Jahrhunderts, als die Samurai an die Macht kamen, die Forderung nach Anerkennung und Stabilität des Eigentumsrechts an Agrarland (im antiken Japan war der Privatbesitz von Land gemeinen Bürgern grundsätzlich nicht gestattet). Aber auch nachdem sich das Shōgunatsystem stabilisiert hatte, entwickelte sich das Privatgesetz, das davon ausgeht, dass das Individuum über Privatrechte verfügt, fast kaum. Als nach der Meiji-Restauration die europäischen Rechtssysteme in Japan eingeführt wurden, gab es kein japanisches Wort, das dem Begriff „Recht“ entsprach, daher musste ein neues Wort, “kenri 権利“, geschaffen werden. Die Rechtskultur, die es als unverschämt ansieht, dass Privatpersonen Rechte geltend machen und es als Tugend betrachtet, die Entscheidungen der Obrigkeit zu respektieren und dieser bedingungslos zu gehorchen, findet man auch heute noch in Japan.

Das wichtigste Gesetz in der Edo-Zeit, unter das die gewöhnlichen Bürger fallen, ist das „Kujikata Osadamegaki 公事方御定書 („Regeln über den öffentlichen Dienst“, auch „Osadamegaki Hyakkajou  御定書百箇条(„100 Artikel-Regeln“)” genannt), ein Regelwerk für Bürokraten, das 1742 vom achten Shōgun Tokugawa Yoshimune erlassen wurde, der Gesetze liebte. Es bestand aus zwei Bänden und war im Wesentlichen eine Ansammlung von Rechtssprechungen aus dem Bereich des Strafrechts. Auch danach wurde die Kompilation weitergeführt, endete jedoch mit dem Rücktritt Yoshimunes vom Amt des Shōguns im Jahr 1745.

Zivilgericht aus der Edozeit im Takayama-Jin-ya
Zivilgericht aus der Edozeit im Takayama-Jin-ya. Kläger und Beklagter wurden auf dem Boden kniend vom Samurai-Richter befragt und mussten dann das Urteil abwarten. Da es den Begriff des Privatrechts als solches nicht gab, wurden Zivilprozesse „gnädigerweise“ von der Autorität der Obrigkeit entschieden. Dies hat dazu geführt, dass im Gerichtssaal auch visuell die Macht der "Obrigkeit" betont wird. Foto: Mikio Tanaka
Zivilgericht aus der Edozeit im Takayama-Jin-ya
Foto: Mikio Tanaka

Entwicklung des Strafrechts in Japan

Straftaten wie Diebstahl und Mord wurden fein kategorisiert und die Bestrafung je nach der jeweiligen sozialen Klasse differenziert. Zum Beispiel bedeutete die Todesstrafe im Fall eines Samurai, der ein schweres Verbrechen begangen hatte, Enthauptung; wenn das Verbrechen weniger schwer war harakiri. Die Todesstrafe eines normalen Stadtbewohners bestand in einer Kreuzigung. Bis dahin existierende grausame Bestrafungen wie beispielsweise das Zersägen wurden abgeschafft.

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Zu dieser Zeit gab es jedoch weder in Japan noch anderswo auf der Welt ein Gesetzlichkeitsprinzip. Das Prinzip schreibt vor, dass die Öffentlichkeit im Voraus genau wissen muss, was rechtswidrig ist und welche Bestrafung dafür verhängt wird. Historisch gesehen geht die Idee des ordnungsgemäßen Verfahrens (due process) auf die Magna Carta von 1215 zurück und gipfelte nach einer langen Reifezeit in die föderalistische Verfassung der Vereinigten Staaten und die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Strafrechtswissenschaftler Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833), erst Rechtsanwalt dann Richter, trat für einen strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip ein, das das ordentliche Strafverfahren strikt anwendete und zum Grundprinzip des modernen Strafrechts wurde.

In jenem Zeitalter des Feudalismus herrschte jedoch eine strafrechtliche Willkür in Bezug auf Strafverfahren vor. Kujikata Osadamegaki wurde vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und war nur für hohe Beamte des Shōgunats zugänglich. Die Regelungen galten nur für das Territorium des Shōgunats, aber aufgrund des hohen Bedarfs an strafrechtlichen Regelungen wurden Abschriften verwendet, die sich unter vielen Lehen verbreiteten, so dass das Werk sich zum de facto Strafgesetzbuch für ganz Japan entwickelte.

Strafgericht aus der Edozeit
Strafgericht aus der Edozeit (auch im Takayama-Jin-ya). Hier sind die Körbe ausgestellt, in denen die Verbrecher transportiert wurden sowie Folterinstrumente. Das Strafverfahren konzentrierte sich darauf, Geständnisse zu erwirken. Die Angeklagten mussten auf den Fersen kniend auf gezackten Brettern sitzen. Dann wurden ihnen schwere Steine auf den Schoß gelegt, deren Zahl erhöht wurde, wenn sie nicht geständig waren. Natürlich ist Folter in den heutigen japanischen Strafverfahren verfassungsrechtlich verboten, aber es wird unverändert großer Wert auf Geständnisse gelegt. Foto: Mikio Tanaka
Sitz des Angeklagten in der Edo-Zeit
Ein Foto des Sitzes des Angeklagten. Wir müssen dankbar für unser Glück sein, in einer demokratischen modernen Gesellschaft geboren worden zu sein. Foto: Mikio Tanaka
Meiji University Museum, Tokyo
Meiji University Museum, Tokyo. Foto: Mikio Tanaka

Es dauerte bis zur Meiji-Restauration, bis in Japan ein Strafrecht eingeführt wurde, das das Gesetzlichkeitsprinzip vollständig annahm. Das erste moderne Strafgesetz wurde 1880 erlassen und orientierte sich am französischen Strafrecht. Es wurde jedoch als zu demokratisch und für die damalige Situation ungeeignet kritisiert, so dass 1907 ein neues Strafgesetzbuch erlassen wurde. Dieses existiert – von einigen Änderungen abgesehen – bis heute. Da das neue Strafgesetzbuch auf dem deutschen Strafgesetzbuch basiert, finden sich in den Lehrbüchern zum Strafrecht auch heute noch in Klammern Fachbegriffe wie „Tatbestand“, „Rechtswidrigkeit“, „Notwehr“, „Putativnotwehr“ usw. in deutscher Sprache.

Gerichtsprozesse in der Edo-Zeit
Zu Japans Ehre muss ich anmerken, dass bis zu der Zeit, in der das moderne Strafgesetzbuch schließlich Verbreitung fand, Foltermethoden überall auf der Welt Anwendung fanden, einschließlich in Europa (Mittelalterliches Foltermuseum in Rüdesheim am Rhein). Foto: Mikio Tanaka

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