Eta, hinin & burakumin: Ausgestoßene der japanischen Gesellschaft von der Edo-Zeit bis heute

Yaren Gülsoy
Yaren Gülsoy

Die Gesellschaft der Edo-Zeit wurde in vier Stände aufgeteilt: Samurai, Bauern, Handwerkern und Händlern. Es gab jedoch auch jene, die keinen Platz in diesem System hatten. Die sogenannten eta und hinin waren Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung – dennoch erfüllten sie eine wichtige Funktion in der gesicherten Ordnung des Tokugawa-Shōgunats.

"Die vier Klassen der Gesellschaft" von Ozawa Nankoku aus dem späten 19. Jahrhundert.
"Die vier Klassen der Gesellschaft" von Ozawa Nankoku aus dem späten 19. Jahrhundert. Eta und hinin galten als Ausgestoßene dieses Ständesystems. © Public Domain

Die Gesellschaft der Edo-Zeit (1603–1868) war ein strenges, nach konfuzianischen Prinzipien in vier Stände gegliedertes Gefüge – das sog. shinōkōshō-System. Oberhalb dieses Systems standen die Kaiserfamilie und der Hofadel, während am unteren Ende die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen angesiedelt waren. Jene wurden eta (穢多, „die Schmutzigen“) und hinin (非人, „Nicht-Menschen“) genannt. Die Ausgrenzung der hinin beruhte auf deren krimineller oder moralisch unsauberer Lebensart, während bei den eta die Natur ihrer Berufe als Rechtfertigung für Diskriminierung diente. Diese Berufe beinhalteten Tätigkeiten, bei denen sie regelmäßig mit dem Tod, toten Menschen und Tieren oder Materialien aus toten Lebewesen in Berührung kamen. Aufgrund verschiedener religiöser Überzeugungen in Japan, die den Tod als Quelle von Unreinheit betrachten, übertrug sich diese Unreinheit auf die Personen, die damit direkten Kontakt hatten.

Eta 

Zu der Gruppe der eta gehörten Gerber, Lederarbeiter, Schlachter, Metzger, Bestatter, Henker sowie Müllsammler. Bereits vor der Edo-Zeit war eta eine herabwertende Bezeichnung für Personen, die an Flüssen siedelten und dort Tätigkeiten nachgingen, für die das Flusswasser benötigt wurde, wie zum Beispiel das Schlachten von Tieren, die Lederherstellung oder auch das Färben. Mitte des 17. Jahrhunderts tauche der Begriff erstmals in Verordnungen der Tokugawa-Regierung auf und entwickelte sich zu einer Standardbezeichnung für einen geächteten Berufsstand, in den man hineingeboren wurde und ihn (im Gegensatz zu den hinin) nicht verlassen konnte, nicht einmal durch Adoption.

Die Ehe zwischen eta und Nicht-eta war streng untersagt. Sie mussten in separaten Gemeinschaften leben und waren selbst in ihren verachteten Berufen eingeschränkt. Sie durften nicht mit Hirschleder oder weißen Häuten handeln oder arbeiten. Es war ihnen verboten, im selben Haus wie andere „normale“ Bürger zu leben oder mit ihnen zu essen. Sie durften keine Burgen, Bauernhöfe oder die Häuser von Nicht-eta betreten. Sie wurden gezwungen, ihre Köpfe zu rasieren oder ihr Haar in einem speziellen Stil zu tragen, um sich von anderen Bürgern zu unterscheiden. Verbrechen gegen sie durch Nicht-eta wurden nicht einmal als kriminelle Handlungen anerkannt, da eta praktisch als nicht-menschlich angesehen wurden. In einem dokumentierten Fall, in dem ein Nicht-eta einen eta tötete, entschied der Richter, dass eine Bestrafung des Angeklagten erst durchgeführt werden könne, wenn der Angeklagte mindestens sieben eta getötet habe, da das Leben eines gewöhnlichen Japaners dem Leben von sieben eta gleichkäme.

Hinin

Hinin waren Menschen, die aufgrund ihrer Lebensweise oder Straftaten als Ausgestoßene galten. Zu den typischen Gruppen gehörten Bettler, Straftäter, Straßenkünstler sowie Prostituierte. Ihre Aufgaben waren oft minderwertig und gesellschaftlich abgelehnt. Zwar blieben geborene hinin immer hinin, doch jene, die durch Verarmung oder Bestrafung temporär zu hinin geworden waren, konnten grundsätzlich innerhalb von zehn Jahren ihren ursprünglichen Stand durch ein komplexes Nachweisverfahren zurückerlangen.

Der Ursprung der hinin reicht bis ins frühe 8. Jahrhundert zurück, als große Tempel und Schreine Anstalten einrichteten, um Arme und Kranke zu versorgen. Diese Anstalten entwickelten sich zu Schutzbereichen, wo Bedürftige im Austausch für Nahrung und Unterkunft verschiedene Aufgaben übernahmen, wie die Reinigung von Tempel- und Schreingeländen nach Festlichkeiten. Mit der Verbreitung von Vorstellungen der „Unreinheit“ gegen Ende der Heian-Zeit (794-1185) wurden diese Tätigkeiten zunehmend stigmatisiert. In den folgenden Jahrhunderten entwickelten sich diese Orte zu Sammelbecken für Arme, Kranke (insbesondere Leprakranke), Bettler, Künstler, Reiniger, Gerber, Verbrecher und andere gesellschaftlich Gefallene, die nach ihrem finanziellen und sozialen Ruin keinen anderen Zufluchtsort fanden.

Interessanterweise gab es für sie jedoch keine Pflicht, in einem bestimmten Gebiet zu leben, wie etwa bei den eta. Hinin durften zwar nur an festgelegten Orten ihrer Tätigkeit nachgehen, hatten aber das Recht, sich in fast allen Stadtvierteln frei niederzulassen. Doch um ihre Sichtbarkeit als „die Anderen“ in der Gesellschaft zu gewährleisten, wurden rigorose Kleidungs- und Haarvorschriften erlassen, die stetig erweitert wurden. Es gab klare Regelungen für die äußere und innere Gestaltung ihrer Behausungen, die jegliche Form von Verzierung und Schmuck untersagten. Ihnen war es verboten, Güter herzustellen oder zu handeln, was auch das Erlernen anderer Berufe oder Handwerke ausschloss.

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Ein System außerhalb des Systems 

Obwohl eta und hinin diskriminiert und marginalisiert wurden, spielten sie dennoch eine unverzichtbare Rolle in der Gesellschaft. Ohne ihre geächteten Tätigkeiten wäre ein reibungsloser Alltag kaum möglich gewesen. Aufgrund ihrer vielfältigen Aufgaben und des wichtigen Beitrags zur öffentlichen Ordnung entwickelte sich im Laufe der Edo-Zeit eine zentrale Organisation und Führung für diese Gruppen. Unter den Anführern der eta und hinin waren der „Danzaemon“ und „Kuruma Zenshichi“ besonders prominent. Diese erblichen Berufstitel brachten Privilegien mit sich, die teilweise nur Samurai vorbehalten waren, obwohl sie selbst eta und hinin waren. Die Anführer arbeiteten mit den Behörden der Tokugawa-Regierung zusammen und hatten in ihren Territorien eigene Gerichtsbarkeit. Sie regelten Rechtstreitigkeiten, erteilten Lizenzen und übernahmen weitere zahlreiche administrative Aufgaben.  

Burakumin: Nachfahren der eta und hinin

Trotz der offiziellen Abschaffung des Ständesystems durch die Meiji-Regierung im Jahr 1871 und der formalen Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger blieb die Diskriminierung bestehen. Zwar gehörten die Bezeichnungen eta und hinin fortan der Vergangenheit an, doch viele ihrer Nachfahren wurden nun unter dem Begriff burakumin zusammenfasst und weiterhin ausgegrenzt. Burakumin zeichneten sich dadurch aus, dass sie in buraku lebten – den ehemaligen Wohn- und Arbeitsvierteln der eta und hinin, die bis heute noch als Gegenden mit viel Armut, geringer Bildung und billigen Mieten gelten. Sie wurden und werden nicht aufgrund ihrer Religion, Nationalität, Kultur oder gar Herkunft marginalisiert. Denn sogenannte burakumin unterscheiden sich ethnisch in keiner Weise von der übrigen Bevölkerung und sind zum Teil nicht einmal Nachfahren der eta und hinin – sondern jener, die im Zuge der Industrialisierung wirtschaftlich ruiniert wurden und daher in ärmere Gegenden strömten. Ihre Ausgrenzung basiert also nicht (ausschließlich) auf ihrer Abstammung, sondern ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass sie aus diesen Wohngebieten stammen oder in irgendeiner Verbindung zu ihnen stehen. Die burakumin gelten als Japans größte Minderheit, Schätzungen zufolgen zählen 1,2 bis 3 Millionen Menschen zu ihnen. 

Sowohl bei Heiratsbeziehungen als auch bei der Arbeitssuche begegnen sie in der Bevölkerung noch immer Vorurteilen und Ablehnung. Trotz Gleichberechtigung und finanzieller Förderprogramme arbeiten heute 81 % der burakumin in ländlichen Gebieten in der Bauindustrie oder in traditionellen Berufen wie Schlachterei und Lederherstellung. Sie verdienen nur 70 % des japanischen Durchschnittseinkommens und brechen dreimal häufiger ein Studium ab als der Rest der Bevölkerung. Unter Arbeitgebern zirkulieren sogar illegale Dokumente mit Wohnorten und Namen der burakumin, was in einigen Fällen Kündigungen, Scheidungen oder Suizid zur Folge hatte. Sie erhalten im Internet Drohungen oder anonyme Hassbriefe, während ihre Viertel mit hasserfüllten Graffitis beschmiert werden.

Bemühungen für Gleichberechtigung

Die burakumin kämpfen seit den 1920er Jahren für ihre Rechte und obwohl Fortschritte erzielt wurden, bleibt die deren Diskriminierung ein ernstes soziales Problem in Japan, das tief in der gesellschaftlichen Struktur verankert ist. Doch Organisationen wie etwa die Buraku Liberation League (BLL) setzen ihren Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit fort. Die BLL organisiert Bildungs- und Aufklärungsprogramme, unterstützt Gerichtsverfahren und fördert Gesetze zur Gleichstellung. Die Liga engagiert sich auch politisch und mobilisiert Unterstützung durch Massenbewegungen und Kooperationen mit verschiedenen politischen Parteien und Organisationen. Trotz interner Spannungen und Fraktionen bleibt ihr Hauptziel, die vollständige soziale und wirtschaftliche Integration der burakumin in die japanische Gesellschaft zu erreichen.


Empfohlene Literatur

Köhn, Stephan and Weber, Chantal, eds. (2019). Outcasts in Japans Vormoderne: Mechanismen der Segregation in der Edo-Zeit. Wiesbaden: Harrassowitz.

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