Shinōkōshō: Das Ständesystem der Edo-Zeit

Yaren Gülsoy
Yaren Gülsoy

In der Edo-Zeit wurde das Leben der Menschen in Japan von einem streng hierarchischen System geregelt, welches eine klare Einteilung der Bevölkerung in Stände diktierte und eine zentrale Rolle im sozialen und wirtschaftlichen Gefüge des Landes spielte. Doch wie genau prägte dieses System den Alltag?

"Wohlstand der vier Klassen", Holzschnitt aus dem Jahre 1869.
"Wohlstand der vier Klassen", Holzschnitt aus dem Jahre 1869.

Das noch junge Tokugawa-Shōgunat führte zu Beginn der Edo-Zeit (1603-1868) mit dem Neo-Konfuzianismus aus China eine neue Weltanschauung ein, welche ihre Legitimation stützen und ihre Herrschaft stärken sollte. Dieses Konzept umfasste auch das shinōkōshō (士農工商), ein System für die Unterteilung der Gesellschaft in vier Berufsstände entsprechend ihrer moralischen Tugend und weltlichen Autorität: Samurai (shi), Bauern (), Handwerker () und Kaufleute (shō). Für jeden Stand galt, unter bestimmten Regeln des Zusammenlebens ihre eigenen standesgemäßen Rollen und Pflichten zu erfüllen. Die Unterscheidung zwischen den Ständen wurde eisern durchgesetzt, doch die Abgrenzung zwischen den Samurai und den anderen drei Ständen war besonders streng.

1. Samurai

An der Spitze der Hierarchie war der Kriegerstand, bestehend aus Samurai. Einzig ihnen wurde das Tragen von Waffen und Nachnamen gestattet. Sie waren Militärführer und Soldaten, die nur wenige Jahre zuvor im Zeitalter der “streitenden Reiche”, der Sengoku-Zeit (1467-1603), in verheerenden Schlachten an der Seite der größten Kriegsherren in der Geschichte Japans gekämpft hatten. Doch in Zeiten des Friedens zog es jene Krieger vom Schlachtfeld in die Bürokratie. Sie genossen zwar auch als Verwalter und Beamte noch immer ein hohes Ansehen, kämpften jedoch oft mit finanziellen Schwierigkeiten.

Holzschnitt aus der Reihe "Suehiro 53 Stationen der Tōkaidō" von Utagawa Kunisada II (1865). Sie zeigt eine Samurai-Prozession in Edo, bei der rangniedrigere Bürger mit Verbeugungen Respekt zollen.

2. Bauern

An zweiter Stelle standen die Bauern, deren Arbeit das Fundament der Wirtschaft des Landes darstellte. Sie hatten die wichtige Aufgabe, Reis und andere landwirtschaftliche Produkte zu erzeugen. Ihrer Rolle im System wurde zwar formell eine große Anerkennung zuteil, da sie praktisch das Volk nährten und das Einkommen der Samurai durch ihre in Reis bemessenen Steuerabgaben sicherten. Sie lebten jedoch oft unter harten Bedingungen und hatten kaum Rechte. Sie waren an das Land ihrer Fürsten gebunden und durften es weder verlassen noch den Beruf wechseln.

3. Handwerker

Die Handwerker setzten sich aus verschiedenen Berufsgruppen zusammen, zu denen unter anderem Schmiede, Töpfer, Schreiner oder Sake-Brauer gehörten. Sie stellten Produkte her, die für den alltäglichen Gebrauch notwendig waren. Handwerker schafften es nur selten, aus ihrer Arbeit ein Vermögen zu machen. Erlangten sie jedoch durch ihre Leistung die Gunst eines Lehnsherrn oder gar des Shōguns, wurden sie nicht nur großzügig entlohnt, sondern auch mit Privilegien ausgestattet, die sonst nur dem Stand der Samurai zustanden – das war jedoch kaum der Regelfall.

Ukiyoe von HokusaiUkiyo-e: Einblicke in die Kunst und Populärkultur der Edo-ZeitJapanische Holzschnitte, genannt ukiyo-e, entwickelten sich im Laufe der Edo-Zeit zu einer populären Kunstform. Ihre Abbildungen waren eng m...24.04.2024

4. Kaufleute

Die Händler und Kaufleute bildeten das untere Ende der sozialen Hierarchie. Denn ihre Arbeit bestand darin, mit den Früchten “fremder Leistungen” zu handeln und nicht etwa, selbst etwas zu produzieren. Tatsächlich nahmen sie aber eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft Japans ein und waren ironischerweise trotz der geringen Wertschätzung und ihrer niedrigen sozialen Stellung viel wohlhabender als Samurai oder andere Berufsstände. Ihr Vermögen und Einfluss trugen dazu bei, dass sie zunehmend unbeliebt und für das Shōgunat sogar als Bedrohung angesehen wurden, da ihr Wohlstand trotz ihrer Stellung einen Widerspruch im konfuzianischen Weltbild darstellte.

Soziale Mobilität

In der Regel wurden Menschen in einen Stand hineingeboren und die klare Abgrenzung erschwerten den Stände- oder selbst Berufswechsel erheblich. Eine Heirat außerhalb des eigenen Standes war sehr selten und meistens untersagt. Diese Grenzen waren auch im Stadtbild sichtbar: Jede Klasse lebte in bestimmten Vierteln. Der gesellschaftliche Umgang war stark reguliert, jede Begegnung zwischen den Ständen unterlag strengen Regeln. Dennoch gab es wenige Fälle, in denen es Menschen gelang, ihren sozialen Status durch einen besonderen Dienst an der Gesellschaft oder außergewöhnliche Leistungen zu verbessern. Es war andererseits ebenso möglich, zur Bestrafung für einen Fehler oder ein Verbrechen tiefer abzurutschen – und zwar sogar so weit, bis man ganz aus dem System fiel.

Jenseits des Systems

Es gab auch Menschen, die in keine dieser vier Stände passten. Einige waren Personen von hohem Rang, respektiert oder besonders berühmt, wie etwa der Kaiser und sein Hofadel, buddhistische Mönche oder auch einige Schauspieler und Künstler. “Jenseits des Systems” bedeutete jedoch nicht immer “über dem System”. Selbst dem niedrigsten Stand im shinōkōshō wurde ein gewisses Maß an Anerkennung zuteil, die anderen Gruppen verwehrt blieb: die sogenannten eta und hinin, welche dem Spott und der Verachtung der Gesellschaft ausgesetzt waren. Eta (wörtlich “Unreine”) waren Menschen, deren Berufe mit dem Tod assoziiert wurden und daher als unrein galten. Dazu zählten etwa Schlachter, Gerber und Henker. Hinin (wörtlich “Nicht-Menschen”) umfassten eine vielfältige Gruppe, welche sich unter anderem aus Bettlern, Straftätern und bestimmten Unterhaltungskünstlern zusammensetzte.

Die Abschaffung des shinōkōshō

Die erzwungene Öffnung Japans seitens der USA in den 1850er Jahren führte das allmähliche Ende des Tokugawa-Shōgunats herbei und löste schließlich mit der Meiji-Restauration 1868 eine Modernisierungswelle aus, die nahezu alle Lebensbereiche Japans erfasste. Das ohnehin bröckelnde und angesichts eines verarmten Kriegerstandes, hungernder Bauern und reicher Händler inzwischen auf den Kopf gestellte shinōkōshō-System wurde in Folge dieses Prozesses abgeschafft. Nach zweieinhalb Jahrhunderten als ein wesentlicher Bestandteil der Gesellschaft, welcher das Leben sowie die Identität der Menschen prägte, hat es Spuren in der japanischen Kultur und Gesellschaft hinterlassen, die sich auch jetzt noch in den tief verwurzelten traditionellen Normen und sozialen Strukturen erkennen lassen.

Viele gesellschaftliche Umgangsformen werden weiterhin vom konfuzianischen Verständnis von Hierarchien beeinflusst. Das spiegelt sich besonders im Alltag in Unternehmen und Schulen wider, wo großer Wert auf den Respekt gegenüber Älteren und Vorgesetzten gelegt wird. Zudem bestehen bis heute noch Formen der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung gegenüber den Nachkommen der eta und hinin, auch burakumin genannt. Die Betrachtung des shinōkōshō kann daher helfen, bestimmte Verhaltensweisen in Japan besser zu verstehen.

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