Im letzten Artikel haben wir Minamoto no Yoritomo kennengelernt, einen politischen Helden, der eine Wende in der japanischen Geschichte herbeiführte. Er zählt jedoch nicht unbedingt zu den beliebten Figuren der japanischen Geschichte. Man verbindet mit ihm eher das Bild eines kalten Führers, der seinen jüngeren Bruder Minamoto no Yoshitsune, einen begabten General, kaltblütig ermordete. In diesem Artikel möchte ich Ihnen die Hassliebe zwischen den Minamoto-Brüdern näherbringen, die Japan kurz vor der Kamakura-Zeit erschüttert hat.
Yoshitsune: militärischer Unterstützer der Revolution seines Bruders Yoritomo
Yoshitsune (1159-1189) wurde von Generationen von Japanern geliebt und wird in vielen Theaterstücken als tragische Heldenfigur dargestellt. Sein kurzes Leben widmete er ganz der Rache: Er wollte den Heike (平家, auch Taira 平)–Klan stürzen, der seinen Vater Yoshitomo getötet und sich als alleiniger Interessensvertreter der Samurai – damals noch bewaffnete Großbauern – präsentierte. Der Wunsch, die Heike zu stürzen, die eine Verwandtschaftsbeziehung zum Kaiserhaus aufgebaut hatten und so mächtig geworden waren, dass sie prahlerisch behaupteten „wer kein Heike ist, ist kein Mensch“, blieb jedoch ein unerfüllbarer Wunschtraum.
Als sich die bewaffneten Bauern der Kantō-Region u.a. aus Unzufriedenheit über die Grundbesitzverhältnisse zum Aufstand erhoben und Yoritomo an ihre Spitze stellten, bot sich für Yoshitsune plötzlich die Möglichkeit, seinen Wunsch zu verwirklichen. Yoritomo erkannte die herausragenden militärischen Fähigkeiten seines jüngeren Bruders und übertrug ihm die Befehlsgewalt über die Kantō-Truppen. Yoshitsune gelang es stets, mit wenigen Kriegern den zahlenmäßig überlegenen Feind zu besiegen. Über die Generationen hinweg wurden seine Leistungen vielleicht auch etwas übertrieben dargestellt, aber man sagt ihm Folgendes nach: Bei der Schlacht von Yashima (heute: Takamatsu) 1185 soll er die 1.000 Mann starke Kommandozentrale der Heike mit einer Kavallerie von nur 80 Mann besiegt haben. In der Schlacht von Ichinotani (heute: Kōbe) im Jahr davor hatte er die Zentrale des Feindes im hinteren Teil eines Tales von oben angegriffen und besiegt, indem er seine Reitertruppe einen Steilhang hinabschickte.
Bei der Schlacht von Ichinotani war Yoshitsunes gesamte Sondertruppe mit Pferden ausgestattet und kam sehr rasch voran. Yoshitsune gilt in der japanischen Militärgeschichte als Derjenige, der zum ersten Mal das Konzept einer Reiterarmee einführte. Bis dahin waren Schlachten hauptsächlich mit Fußsoldaten ausgetragen worden, da Pferde ein Luxusgut waren. Das Konzept einer komplett berittenen Armee setzte sich jedoch in Japan nicht durch. In der Sengoku-Zeit (1467-1603) gab es zwar weitere Ansätze wie z.B. die Großteils berittenen Truppen des Takeda-Klans in der heutigen Präfekturen Yamanashi und Nagano. Eine richtige Kavallerie wurde jedoch erst nach der Meiji-Restauration in Anlehnung an die des Westens eingeführt.
Der Bruderzwist: Fataler Konflikt zwischen Yoshitsune und Yoritomo
Trotz seines herausragenden militärischen Talents fehlte es Yoshitsune vollständig an politischem Gespür. Er verstand weder die politischen Ziele seines Bruders, noch weshalb man Yoritomo an die Spitze der Samurai-Truppen der Kantō-Region gestellt hatte. Dies führte schließlich zu seinem tragischen Ende.
Die Heike waren ursprünglich Interessensvertreter der Großbauern gewesen, die im Laufe der Zeit Macht erlangt hatten und zu Adligen wurden. Yoritomo, der eine Samurai-Regierung anstrebte, warnte auch nach der Vertreibung der Heike-Truppen aus Kyōto vor dem Einfluss der kaiserlichen Regierung und verbot den dort stationierten Generälen der Kamakura-Armee strikt, Positionen der Kyōto-Regierung anzunehmen. Diese war dagegen bemüht, die in Kyōto stationierten Feldherren der Kamakura-Armee ebenso zu zähmen wie sie es mit den Heike getan hatte und bot einigen der Generäle Titel an. Einige nahmen diese schließlich an – darunter auch Yoshitsune, der kebiishi no jō 検非違使の尉 (Amtsleiter für Rechtswidrigkeiten – entspricht etwa dem Leiter der Polizeibehörde der Hauptstadt) oder kurz hōgan 判官 (ein Amtstitel des Mittelalters) genannt wurde.
Der erzürnte Yoritomo bestrafte die Generäle, die solche Titel angenommen hatte, auch wenn es sich meist um bloße ehrenamtliche Titel handelte.Darin sah er eine Anerkennung der Autorität der Kyōto-Regierung. Diese Haltung ist verständlich, denn für Yoritomo war die Autorität der kaiserlichen Regierung unvereinbar mit seiner Politik: Yoritomo versuchte, das ancien régime (das Ritsuryō-Regime, unter dem der Grund im Prinzip dem Staat gehörte) komplett zu überwinden, den Samurai durch privaten Grundbesitz eine wirtschaftliche Basis zu verschaffen und ein politisches System zu etablieren, in dem die Samurai eine zentrale Rolle spielten.
Hinzu kam, dass Yoshitsune die Tochter des Erzfeindes Taira no Tokitada zu einer seiner Frauen machte. Tokitada war bei der Seeschlacht von Dannoura, bei der die Heike eine vernichtende Nierderlage erlitten hatten, gefangen genommen worden. Yoshitsune sah darin einen Akt des Mitleids gegenüber dem Verlierer oder tat es vielleicht auch aus Liebe; politisch gesehen war es jedoch ein Skandal oder sogar eine Rebellion gegen Yoritomo.
Yoritomo zog, obwohl Yoshitsune den großen Sieg herbeigeführt hatte, dessen Truppen ab, verbot ihm, nach Kamakura zurückzukehren und setzte Verfolger auf seine Spur. Er wurde durch fast ganz Japan gejagt, im heutigen Hiraizumi (Präfektur Iwate) schließlich gestellt und getötetet. In seinem grenzenlosen Zorn gegen Yoshitsune bereitete Yoritomo seinem Bruder eine letzte Demütigung: Er befahl dem General, der sich am schlechtesten mit Yoshitsune verstanden hatte, den gegen die Verwesung in Sake konservierten und nach Kamakura gebrachten Kopf Yoshitsunes zu identifizieren. So endete der Bruderzwist zwischen Yoritomo, dem großen Politiker, und Yoshitsune, einem militärischen Genie und politischen Tölpel.
Hōgan biiki: Vorbehaltloses Mitleid mit dem Schwächeren
Die Einschätzung und der Ruf der Brüder bei den nachfolgenden Generationen von Japanern sehen anders aus. Yoshitsune, der talentiert war, aber sich – nur auf sein Ziel fokussiert – von seinen Gefühlen hat leiten lassen, ist wesentlich beliebter als Yoritomo, der theoretische, vorsichtige und politische Denkweisen bevorzugte. Eine bewegende Szene an der Grenzstation von Ataka während Yoshitsunes Flucht gehört zu den wichtigsten Themen im Nō-Theater. Es gibt sogar einige Theorien, die behaupten – da man nicht glauben möchte, dass Yoshitsune in Hiraizumi getötet wurde –, dass Yoshitsune über Hokkaidō aufs Festland in die Mongolei geflohen sei und dort „Dschingis Khan“ wurde.
Viele Japaner hegen Yoshitsune gegenüber Gefühle wie Sympathie und Trauer über sein Schicksal, wobei dieser Betrachtung meist keine objektiven Kriterien zugrunde liegen. Der Ausdruck hōgan-biiki 判官贔屓– (wörtlich: Vorliebe für den Leiter der Polizeibehörde, also Yoshitsune) – geht auf jene Zeit zurück und wird heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch im weiteren Sinne als „vorbehaltsloses Mitleid mit dem Schwächeren“ verwendet.
Wenn in Japan Unternehmensskandale, wie z.B. Bilanzkosmetik zur Verschönerung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens auftreten, werden die institutionell Verantwortlichen zivil- oder strafrechtlich eher selten persönlich zur Verantwortung gezogen. Für dieses Phänomen gibt es verschiedene Erklärungen. Als sich Ende des 20. Jahrhunderts viele Unternehmens- und Behördensskandale ereigneten, wurde argumentiert, dass es nicht fair sei, nur eine/bestimmte Person(en) zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl die problematischen Entscheidungen im Kollektiv getroffen worden seien. Diese Begründung ist in Japan in gewisser Hinsicht überzeugend, da der Großteil der Japaner keinen strengen Monotheismus lebt, der wie die Bibel oder der Koran mit Verhaltenskodizes einhergeht, sondern lieber im Kollektiv handelt anstelle eigenen Entscheidungen zu folgen. Darüber hinaus sind in der japanischen Unternehmenskultur nach wie vor konfuzianistische Wertanschauungen stark präsent, die vertikalen Beziehungen große Bedeutung beimessen. Aus diesem Grund tendiert man eher dazu, die menschlichen Beziehungen innerhalb der Organisation zu schützen, anstatt interne Skandale konsequent für die allgemeine Gerechtigkeit ans Licht zu bringen.
In westlichen Ländern droht sich die Öffentlichkeit stark über interne Unternehmensskandale aufzuregen und fordert transparente Informationen. In Japan werden Bemühungen, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, mitunter durch das allgemeine hōganbiiki, also vorbehaltloses Mitleid mit dem Schwächeren, oft ausgebremst. Hinzu kommt, dass bei Kritik an Personen, die sich bis dahin für die Organisation eingesetzt und verdient gemacht haben, sich nach einer Weile eine allgemeine Stimmung verbreitet, es doch damit genug sein zu lassen und den Betroffenen nicht weiter an den Pranger zu stellen. Die unabhängigen Ausschüsse, die oft zur Aufklärung von Unternehmensskandalen eingerichtet werden, haben es daher oft schwer, denn sie stehen zwei „Gegnern“ gegenüber: der Unternehmenskultur, die die Organisation des betroffenen Unternehmens schützen will, und dem hōgan biiki der Öffentlichkeit.
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