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Das japanische Rechtswesen | Teil 4: Stützen des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit

Im ersten Teil dieser Serie wurde bereits auf die Ähnlichkeiten zwischen dem japanischen und dem deutschen Recht hingewiesen. Dieser Zustand dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an, danach nahm der Einfluss der Siegermacht USA zu.

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Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem japanischen und dem deutschen Recht ist – insbesondere aus der Sicht des Rechtspraktikers – der hohe Ermessensspielraum von Gerichten und Verwaltungsbehörden in Japan. Dies hat mehrere Gründe: Das japanische Zivilrecht hat beispielsweise erheblich weniger Paragraphen als das deutsche BGB. Vergleicht man nur die Anzahl der Paragraphen ohne Berücksichtigung der gestrichenen/ergänzten Paragraphen, so stellt man fest, dass das BGB mit §2385 endet, das japanische BGB mit §1044. Ferner sind auch die Gesetztexte in Japan nicht so klar formuliert wie im deutschen Recht. Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, was dies für den Ermessensspielraum der Gerichte und Verwaltungsbehörden bedeutet.

Großer Ermessensspielraum der japanischen Gerichte

Das deutsche Kündigungsschutzgesetz (KSchG) ist weltweit bekannt für seine strengen Auflagen, aber auch die japanischen Kündigungsschutzregeln können – insbesondere im Vergleich zu angloamerikanischen Rechtssystemen – als recht streng angesehen werden. Während das deutsche KSchG jedoch die strengen Auflagen konkret und klar formuliert und gesetzlich festlegt ist, in welchen Fällen es angewendet wird, beschränkt sich die entsprechende Formulierung im japanischen Arbeitsvertragsgesetz auf den Satz: „Die Kündigung gilt als Kündigungsrechtsmissbrauch und somit als nichtig, wenn sie objektiv nicht rational begründet und nach herrschenden Gesellschaftsansichten nicht angemessen ist.“ Was „objektiv rationale Gründe“ und „nach herrschenden Gesellschaftsansichten angemessen“ genau bedeutet, bleibt komplett der Interpretation überlassen. Auch Umfang und Ausmaß der Anwendung der sog „Theorie des Missbrauchsverbots des Kündigungsrechts“ durch die Rechtsprechung, die Kündigungen einschränken soll, ist im Unterschied zum deutschen KSchG nicht klar definiert. So gilt z.B. in Deutschland das KSchG nicht während der Probezeit, in Japan wird das o.g. Rechtsprinzip jedoch in lockerer Form auch auf die Probezeit angewendet. Es ist also möglich, dass selbst bei einer Kündigung während der Probezeit das Gericht interveniert.

Hinsichtlich Kündigungen hat sich jedoch ein detailliertes Richterrecht etabliert, dessen Inhalte deutliche Einflüsse des deutschen KSchG aufweisen. Ebenso wie die deutschen Tochtergesellschaften japanischer Unternehmen sich häufig mit dem KSchG schwertun, haben auch Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen in Japan in häufig Probleme mit dem Richterrecht, das nirgendwo im Wortlaut des Arbeitsrechts ausformuliert ist. Dieses Thema wird in zukünftigen Artikeln genauer behandelt.

Großer Ermessensspielraum der japanischen Verwaltungsorgane

Es gibt eine Reihe von Gesetzen, besonders im Bereich des Wirtschafts- und des Arbeitsrechts, in denen das Gesetz nur den Rahmen vorgibt, die Formulierung der in der Praxis wichtigen Anwendungsbedingungen jedoch vollständig in Ministerialverordnungen und sonstigen Verordnungen erfolgt. Dies hat zu einem extremen Machtanstieg der Verwaltungsorgane einerseits und einer Schwächung der Judikative andererseits geführt: Entscheidungen der Verwaltungsorgane sind nur rechtswidrig, wenn Ermessensgrenzen überschritten werden. Solange sie im Rahmen des Ermessensspielraums bleiben, kann die Judikative nicht eingreifen. Ich habe einige Jahre in einer Frankfurter Großkanzlei gearbeitet und war damals erstaunt zu erfahren, dass es unter den deutschen Juristen „Verwaltungsrechtler“ gibt. In Japan ist das Ermessen der Exekutive so weit gefasst, dass man praktisch keine Chance hat, Verwaltungsprozesse gegen Verwaltungsorgane zu gewinnen. In Japan wäre es aus betriebswirtschaftlichen Gründen selbst bei einer Großkanzlei undenkbar, dass es eine eigene Verwaltungsrechtsabteilung gäbe, da diese nie rentabel wäre. Gleichzeitig habe ich dabei mit Neid festgestellt, wie reif der Rechtsstaat in Deutschland ist.

Auch wenn ein Unternehmen gegen das Gesetz verstoßen hat, können die Justizorgane meist nicht sofort Sanktionen verhängen. Viele Gesetze sehen vor, dass die Überwachungsbehörde zunächst eine Verbesserungsempfehlung oder eine administrative Führungsanweisung ausspricht und nur dann, wenn diesen nicht nachgekommen wird, können erstmals juristische Schritte eingeleitet werden. Dabei obliegt die Entscheidung, ob tatsächlich Strafen gegen das verstoßende Unternehmen verhängt werden, der Überwachungsbehörde. Wenn es dieser am nötigen Personal (oder Willen) zur strikten Anwendung des Gesetzes mangelt, kann das Gericht nicht eingreifen. Im schlimmsten Fall kann dies eine moralische Gefahr auslösen, die sich auf die gesamte Branche übertragen kann: eine Situation wie in den 90er Jahren zum Ende der Wirtschaftsblase, als eine ganze Branche in eine Krise stürzte.

Eine weitere Besonderheit der Rechtspraxis in Japan ist die „administrative Führung”. Darunter versteht man konkrete Anweisungen der Verwaltungsorgane an einzelne Unternehmen, die verschiedene Zwecke erfüllen: Interessensausgleich zwischen Unternehmen, Verbraucherschutz, Industriepolitik usw. Aus juristischer Perspektive ist anzumerken, dass insbesondere in der Phase des hohen Wirtschaftswachstums die gesetzlichen Grundlagen dieser „Führung“ teilweise unklar und die Kriterien vage formuliert waren. Sie erfolgte formlos, teilweise auch nur mündlich. Häufig ist es für Betroffene, denen durch die Führung Nachteile erwachsen sind, aufgrund dieser Ambiguität der Rechtsnatur und der Formulierungen schwierig, gerichtlich gegen die Weisungen vorzugehen.

Bei Verwaltungsverfahren muss zunächst die Hürde der „Annahme” genommen werden. Auch wenn Dokumente eingereicht werden, die die Voraussetzungen erfüllen, kann es vorkommen, dass diese verweigert wird. Dies gilt vor allem für Fälle, in denen die Behörden innerhalb einer bestimmen Zeit nach Annahme des Antrags bestimmte Handlungen einleiten müssen. Auch bei Strafrechtfällen kann die Annahme der Strafanzeige an sich durch die Polizei verweigert werden, wenn nicht ausreichend Beweise mitgeliefert werden. Die außergewöhnlich hohe Verurteilungsquote (ca.99 %) bei Strafsachen, bei denen es zur Anklage kam, ist u.a. auf diese „Eingangskontrolle“ zurückzuführen. Dies ist insbesondere bei Wirtschaftskriminalität oder Fällen, hinter denen Zivilstreitigkeiten stehen, zu beobachten. Es steht zwar nicht explizit in der Strafprozessordnung, aber in der japanischen Strafrechtspraxis gilt das „Prinzip des Nichteingreifens in Zivilstreitigkeiten“. Aus diesem Grund wird die Polizei bei Zivilstreitigkeiten, in denen eindeutig auch ein strafrechtlicher Tatbestand vorliegt (Dokumentenfälschung oder Unterschlagung etc.), nur ungern tätig.

Die sogenannte „20 %-Justiz”

Es gibt Studien, denen zufolge nur 20 % der Zivilstreitfälle in Japan auf juristischem Wege gelöst werden – bei den restlichen 80 % wendet man sich an einflussreiche Personen wie Verwaltungsbeamte oder Politiker oder gibt die Sache einfach auf. Begründet wird dies häufig damit, dass Japaner öffentliche Streitlösungen ablehnen. Wie oben erläutert, war jedoch bis vor kurzem der Aufbau der Gewaltenteilung in Japan vom Bild der „großen Regierung und kleinen Justiz“ geprägt. Details zur kleinen Justiz folgen in einem weiteren Artikel.

Ein anschauliches Beispiel hierfür sind z.B. die zahlreichen Prozesse im Zusammenhang mit der ungleichen Gewichtung der Stimmen. Da trotz andauernder Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte das Wahlsystem nicht genug angepasst wird, sind die Regionen letztendlich überrepräsentiert. (Ein extremes Beispiel ist die Oberhauswahl 1992, bei welcher auf einen Abgeordneten in der Präfektur Kanagawa 6,6-mal so viele Wähler wie in der Präfektur Tottori kamen.) Dies ist nicht nur ein Menschenrechtsproblem, sondern hat auch ernsthafte Auswirkungen auf die Staatspolitik. Wenn ländliche Regionen (meistens abhängig von Landwirtschaft) gegen die Ausweitung von Importen von Waren (z.B. Agrarprodukte) aus dem Ausland stimmen, wird dies schnell als Meinung Japans insgesamt angesehen.

Es gibt viele Gerichtsentscheidungen zu dem abnormen Zustand, dass eine Wählerstimme je nach Wohnort unterschiedlichen Wert hat – einige kamen zu dem Ergebnis, der Zustand sei verfassungskonform, andere befanden ihn als verfassungswidrig. Selbst bei Gerichtsurteilen, die den Zustand als verfassungswidrig einstuften, kam es auf der Ebene der höheren Gerichte bisher jedoch noch nie vor, dass die Wahl auf Nationalebene als ungültig erklärt wurde. Dies ist nicht das einzige Beispiel. Japanische Gerichte gehen i.d.R. bei Entscheidungen, die politische Wirkungen haben könnten, sehr zurückhaltend vor.

Auch die Verfahren reflektieren dieses „kleine Justiz“-Konzept. Zwei Beispiele:

  • Das Prinzip im deutschen Recht, dass die unterlegene Partei auch die Anwaltskosten der Siegerpartei tragen muss, existiert in Japan bis auf bestimmte Ausnahmefälle nicht. Die Kosten zur Urteilsdurchsetzung eines gewonnenen Prozesses sind auch nicht zu unterschätzen.
  • In der japanischen Zivilprozessordnung besteht zwar ein System, nach dem die Gerichte die Offenlegung von Dokumenten anordnen können, aber die Gerichte in Japan zögern, diese Befugnis auszuüben. Hart für die Partei mit Beweislast.

Solche prozessrechtlichen Aspekte machen die juristische Konfliktlösung in Japan nicht unbedingt attraktiv.

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