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Nagoshi no harae: Mit diesem Shintō-Ritual reinigt Japan sich am 30. Juni

Hannah Janz
Hannah Janz

Im japanischen Alltag haben zahlreiche Traditionen überdauert – so auch die shintoistische „große Reinigung“. Zum Ende der ersten Jahreshälfte stellen japanweit Schreine große Kränze aus Gras auf. Das Ritual blickt auf über tausend Jahre Geschichte zurück.

nagoshi no harae 夏越の祓 Japan Ritual Shinto Kultur Tradition
(c) Wikimedia Commons CC2.0

Nicht nur Silvester als Übergang zwischen altem und neuem Jahr wird in Japan traditionell gefeiert. Gehalten hat sich auch der Brauch der „großen Reinigung“ zum 30. Juni. Dann geht nämlich die erste Hälfte des Jahres zu Ende. Japanweit bieten viele Schreine des Shintōismus ab Ende Juni dieses Ritual an, bei dem Sie auch mitmachen können. Besonders in und um Kyōto ist es verbreitet.

Die Reinigung zum 30. Juni nennt sich nagoshi no harae 夏越の祓, „Reinigung auch über den Sommer hinaus“. Vor den Haiden-Hauptgebäuden oder unter den Torii-Eingangstoren der Schreine werden Ende Juni große Kränze aus Gras aufgestellt. Sie heißen chi no wa 茅の輪. Manche sind fedrig aus frischem grünen Gras gebunden, andere eng aus Stroh geflochten, manche werden schlicht mit Blumen dekoriert.

Um sich der Reinigung zu unterziehen, muss man auf eine bestimmte Art mehrmals durch den Kranz aus Gras gehen. Dieses Ritual heißt chi no wa kuguri 茅の輪潜), „den Kranz aus Gras durchschreiten“.

nagoshi no harae 夏越の祓 Japan Ritual Shinto Kultur Tradition
(c) Nikita / Flickr CC2.0
nagoshi no harae 夏越の祓 Japan Ritual Shinto Kultur Tradition
(c) Photo AC
nagoshi no harae 夏越の祓 Japan Ritual Shinto Kultur Tradition
(c) Photo AC

Der Brauch entstand in der Nara-Zeit zwischen 710 und 794. Der Legende nach soll die Gottheit Susanoo no mikoto einem armen Mann einen Kranz aus Gras geschenkt haben, nachdem dieser dem Gott Unterschlupf gewährt hatte. Der Kranz schützte den Mann vor Krankheiten und Unglück – eine Fähigkeit, die den Kränzen aus Gras bis heute zugeschrieben wird.

Traditionelles Shintō-Ritual zum 30. Juni: Graskränze und Süßigkeiten

Indem die Schrein-Besucher durch die Graskränze gehen, treten sie symbolisch in die zweite Jahreshälfte hinüber – und befreien sich von Sünden, die sie in der ersten Jahreshälfte begangen haben. Dabei beten sie dafür, dass auch die zweite Jahreshälfte gesund und erfolgreich verlaufen möge.

[Video] Nachdem der Kranz in einer Zeremonie durch die Shintō-Priester geweiht wurde, können sich auch Besucher dem Reinigungsritual unterziehen.

Das können Sie natürlich auch versuchen: Verbeugen Sie sich vor dem Kranz. Stellen Sie sich nun vor, dass Sie von oben betrachtet die Form des Unendlichkeitszeichens ∞ nachschreiten. Gehen Sie durch den Kranz hindurch und über die linke Seite wieder zurück zu Ihrem Ausgangspunkt. Gehen Sie noch einmal durch das Gebinde, diesmal aber auf der rechten Seite zurück. Nun gehen Sie ein letztes Mal hindurch und sind gereinigt.

[Video] So sieht es aus, wenn man selbst durch den Kranz aus Gras schreitet.

Japanische Süßigkeit minazuki: Ohne Wasser durch den Sommer?

Aus Kyōto stammt die Tradition, am 30. Juni minazuki 水無月 zu essen. Die Grundlage bildet uirō 外郎, ein Kuchen, der aus Reismehl und Zucker besteht und zu den Klassikern japanischer Süßigkeiten gehört. Er kann auch gefärbt werden, zum Beispiel mit Grüntee. Um minazuki daraus herzustellen, wird uirō in kleine Dreiecke geschnitten und mit anko, einer Paste aus süßen roten Bohnen, bestrichen.

nagoshi no harae 夏越の祓 Japan Ritual Shinto Kultur Tradition
(c) Photo AC

Merkwürdig ist der Name der Süßigkeit: Minazuki bezeichnete in der alten japanischen Zeitrechnung den Juni. Wörtlich übersetzt „Monat ohne Wasser“, wundert diese Bezeichnung sicher jeden, der schon einmal die japanische Regenzeit im Juni erlebt hat.

Tatsächlich ist der sechste Monat der alten Zeitrechnung in Japan aber heute der siebte – also unser Juli. Und der ist auch in Japan sehr trocken, obwohl die Reisfelder gerade in dieser Zeit reichlich Wasser benötigen. Mit dem Essen von minazuki soll man jedenfalls gesund den Sommer überstehen.

Wo Sie das Reinigungs-Ritual im Juni in Japan erleben

Besonders in der Gegend um Kyōto ist nagoshi no harae verbreitet. Viele Schreine stellen Graskränze auf. Zu empfehlen ist der Schrein Kitano Tenman-gū 北野天満宮. Vom 25. bis 30. Juni steht hier ein Graskranz, der über fünf Meter hoch ist! Außerdem gibt es verschiedene Stände und auch eine abendliche Illumination des Schreingeländes.

Kitano Tenman-gū
Bakuro-chō, Kamigyō-ku, Kyōto

In Tōkyō finden Sie einen Graskranz zur Reinigung beispielsweise vor dem Shitaya-Schrein下谷神社 im Stadtteil Ueno. Wie an den allermeisten Schreinen hängt auch hier ein Schild, das den Besuchern noch einmal erklärt, wie sie durch den Kranz gehen müssen.

Shitaya-jinja
3-29-8 Higashi-Ueno, Taitō-ku, Tōkyō

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