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Goshuin: Siegel-Schnitzeljagd und besonderes Mitbringsel

Samira Rafiq
Samira Rafiq

Auf der Japanreise werden gerne die zahlreichen buddhistischen Tempel und shintoistischen Schreine besucht. Wer schon einmal dort ist, kann sich ein ganz besonderes Erinnerungsstück anfertigen lassen - ein sogenanntes Goshuin.

Anfertigung eines Goshuin.
Anfertigung eines Goshuin. © Photo AC / ジルバーナー

Ich bin in einem Raum des riesigen Sōjiji-Tempels in Yokohama. Vor mir sitzt ein junger buddhistischer Mönch auf einem Stuhl. Er beugt sich über einen Tisch, auf dem Schreibutensilien liegen: zwei unterschiedlich dicke Pinsel, ein Reibstein mit aufgeriebener Tusche darin, ein kleines Wassergefäß und den Tuscheblock daneben. Das sind die Utensilien des Shodō, der Kalligrafiekunst. Außerdem stehen ein scharlachrotes Stempelkissen und Siegel in verschiedenen Größen und Formen neben ihm.

Zwischen dem ganzen Handwerkszeug liegt das Siegelbuch Goshuin-chō, das ich vor einigen Minuten im Tempelladen erworben hatte. Der Mönch schreibt konzentriert mit ruhigem Gesichtsausdruck eine Kalligrafie in mein Buch. Dann wechselt er den Pinsel und fügt in dünnerer Schrift das Datum hinzu. Schließlich stempelt er mit zwei verschiedenen Siegeln quer über seine Schriftzüge. Er lässt alles kurz antrocknen, legt ein perfekt zugeschnittenes Blatt Pergamentpapier auf das fertige Kunstwerk und schließt das Buch.

Der Zauber dieses kurzen Momentes ist erst gebrochen, als er aufschaut, um mir das Buch zurückzugeben. Ich bedanke mich mit arigatō gozaimasu und nehme das Buch mit einer Verbeugung entgegen. Der Mönch verbeugt sich ebenfalls, bevor er sich der nächsten Kalligrafie widmet. Ich schlage das Buch an der besagten Stelle auf und bewundere das Kunstwerk. Es ist ein sogenanntes Goshuin.

Beispiel eines typischen Goshuin-chō.
Beispiel eines typischen Goshuin-chō. © Photo AC / hakusyu

Goshuin-Boom

Goshuin sind schwarze Kalligrafien versehen mit zinnoberroten Siegeln, die man an Schreinen und Tempeln erwerben kann. Sie bestätigen den Besuch dergleichen. Ursprünglich handelte es sich um Sutrentexte, die von den Mönchen und Priestern in die Goshuin-chō, Siegelbücher, geschrieben wurden. Mittlerweile sind die Kalligrafien stark vereinfacht und bestehen meist aus dem Namen der religiösen Stätte, dem Datum sowie manchmal noch einem kurzen Spruch. Ein Goshuin kostet zwischen 300 und 500 Yen, also zwischen 2 und 3,50 Euro, und wird innerhalb weniger Minuten angefertigt.

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Während das Sammeln von Goshuin Ende des letzten Jahrhunderts fast als ausgestorbene Tradition galt, erfuhr es vor zehn bis fünfzehn Jahren einen regelrechten Boom, der bis heute anhält. Das Befüllen des Goshuin-chō wird natürlich von vielen Japanerinnen und Japanern noch aus dem gleichen Grund wie früher betrieben: dem Sammeln der Tempel- und Schreinbesuche, die man im Laufe des Lebens gemacht hat. Die Goshuin-chō werden nach dem Tod des Sammlers zusammen mit seiner Leiche verbrannt – das soll für Pluspunkte im Jenseits sorgen. Für viele Menschen gleicht das Sammeln von Goshuin mittlerweile allerdings einer Art Schnitzeljagd. Möglichst viele Siegel sollen in kurzer Zeit gesammelt werden, am besten an den Orten mit den schönsten Stempeln.

Goshuin des berühmten Fushimi Inari-Schreins in Kyōto
Goshuin des berühmten Fushimi Inari-Schreins in Kyōto. Mittig steht der Name des Schreins, links das Ausstellungsdatum in japanischen Schriftzeichen geschrieben. © Photo AC / pyon_

Wo man sie bekommt

Schritt 1 ist der Erwerb eines Goshuin-chō an Tempeln und Schreinen, doch mittlerweile werden sie auch Buch- oder Schreibwarengeschäften verkauft. Anschließend betet man am Tempel oder Schrein. Danach geht man zum Verkaufsbereich von Talismanen und erbittet ein Goshuin:

Sumimasen. Goshuin onegai shimasu.

Man bezahlt und wartet auf das Kunstwerk. Goshuin gibt es nicht überall, allerdings werden sie aufgrund der Popularität der letzten Jahre an immer mehr religiösen Stätten angeboten. Gerade an den berühmten Tempeln und Schreinen können die Mitarbeitenden die hohe Anfrage nach Goshuin kaum noch stemmen, weshalb nur Vordrucke (kakioki) verkauft werden. Die Vordrucke haben die gleiche Größe wie die Seiten im Goshuin-chō, allerdings kann man bei der Anfertigung nicht zusehen. Das volle Goshuin-chō ist eine Dokumentation der religiösen Orte, die man besucht hat und damit auch ein wunderbares und ganz persönliches Mitbringsel der Japanreise.

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