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„Darüber spricht man nicht!“ – Wenn Scham zur Volkskrankheit wird

Emma Miesler
Emma Miesler

Japan wird als eine Kultur der Scham betrachtet – aber was bedeutet das? Und woher kommt dieses Schamgefühl, das Gesprächsthemen leitet (oder sie ganz unter den Tisch fallen lässt) oder dafür sorgt, dass manche Drogerieprodukte in Papiertüten versteckt werden?

Frau, die sich das Gesicht verdeckt
© Photo AC / TicTac

Als ich eines Tages in der Drogerie um die Ecke in Tōkyō neben ein paar anderen Artikeln auch eine Packung Damenhygieneprodukte kaufte, überraschte mich die Reaktion der Verkäuferin hinter dem Tresen: Denn während ich anfing, mein Kleingeld im Geldbeutel zusammenzusuchen, packte sie fein säuberlich ausschließlich die Hygieneprodukte in eine gesonderte, blickdichte Papiertüte. Als ich einer japanischen Freundin von diesem Erlebnis und meiner Überraschung darüber erzählte, schüttelte sie nur den Kopf über meine Reaktion: Dass sei schließlich hazukashii, sowas soll doch niemand von einem wissen.

Hazukashii. Schlägt man das Wort im Wörterbuch nach, dann wird das meistens als „peinlich“ übersetzt – doch so ganz scheint das nicht zu passen. Denn nur weil etwas als vermeintlich peinlich betrachtet wird, muss das doch nicht in diesem Maße versteckt werden. Oder? Das Wort hazukashii (恥ずかしい) wird mit dem Zeichen für Schande oder Scham, haji (恥), geschrieben – ein Begriff, der doch schwerer wiegt als nur reine Peinlichkeit und andeutet, dass vielleicht mehr dahintersteckt.

Kultur der Scham und Schuld

In der Kulturforschung gibt es das Konzept der Scham- und Schuldkulturen: Je nachdem, ob es in einer Kultur eine innere Instanz ist, die Fehlverhalten bewertet und bestraft (das eigene Schuldgefühl), oder eine äußere (das Schamgefühl, das durch die Bewertung von außen erregt wird), sollen sich Kulturen einordnen lassen. Natürlich gibt es in fast allen Kulturen Dinge, die in den Menschen Scham oder Schuld hervorrufen, doch welcher Faktor den größeren Einfluss hat, ist meist historisch gewachsen.

In unserer westlichen, christlich geprägten Gesellschaft war – historisch gesehen – das, was die Gesellschaft zusammengehalten und ein moralisches Grundgerüst für das gemeinsame Leben geschaffen hat, die Kirche und die Bemühungen, ein möglichst gutes Leben nach dem Tod im Himmel zu haben. Der Moralkodex war also geprägt von der Sorge, im Diesseits Sünden zu begehen und Schuld auf sich zu laden.

Die japanischen Religionen allerdings haben kein Konzept von einem Himmelreich nach dem Tod (oder zumindest nicht von einem Himmel, in dem man nach dem Tod die Ewigkeit fristet) – also brauchte es einen anderen Ansatz, die frühen Gesellschaften zusammenzuhalten: mit dem Konzept der Schande und des Schamgefühls. Das hat auch Konfuzius erkannt und als der Konfuzianismus von China aus seinen Weg nach Japan fand, galt die Scham als weggebende Instanz.

Das eigene Gesicht verstecken

Über die Jahrhunderte hinweg hat sich Japan, wie viele andere ostasiatische Kulturen, zu einer kollektivistischen, vom Schamgefühl geprägten Gesellschaft entwickelt. Überspitzt gesagt: Die Gruppe ist wichtiger als der oder die Einzelne, Konformität steht über Individualität. Man versucht, hineinzupassen. Im Japanischen gibt es dafür sogar eine Redewendung: „Der Pfeiler, der heraussticht, wird hineingeschlagen“ (im Japanischen: Deru kui wa utareru). Und es bedeutet auch, dass die Identifikation mit der Gruppe und die Bemühungen, innerhalb der Gruppe nicht negativ aufzufallen, aber auch durch die eigenen Handlungen die Gruppe nicht in ein schlechtes Licht zu rücken, einen besonderen Stellenwert haben.

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Aus der Überzeugung nicht aus der Reihe tanzen zu wollen und bloß nicht das Gesicht zu verlieren, wird das wahre Gesicht, das sogenannte honne, hinter einer Fassade, der tatemae, versteckt und man baut sich die eigene, nach außen präsentierte soziale Identität. Persönliches wiederum bleibt im Privaten.

Mit diesem Hintergrund versteht man dann auch: Hazukashii heißt nicht einfach nur peinlich und bei haji geht es nicht nur um eine persönliche Empfindung. Haji ist aus der Sorge geboren, dass das Umfeld etwas vermeintlich Schlechtes von einem erfahren könnte. Und dieses Schlechte bezieht sich nicht nur auf die Person selbst, sondern hat auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung des Umfelds, da die Identifikation mit der eigenen Gruppe so stark ist. Und auch bei dem Konzept hazukashii geht es dann weniger darum, dass man sich vor seinen Mitmenschen blamiert, sondern vielmehr darum, mit seinem Verhalten unangenehm aus der Masse herauszustechen und im schlimmsten Falle die eigene Gruppe schlecht darzustellen.

Die Folgen der Konformität

Heute begeht in Japan niemand mehr rituellen Selbstmord, wenn man das Gesicht verloren hat, so wie einst die Samurai – doch kann es dazu kommen, dass beispielsweise eine gesamte Chefetage eines Unternehmens den Rücktritt erklärt, wenn ein Mitglied einen zu schwerwiegenden Fehler begangen hat. Oder, dass der Vorgesetzte stellvertretend für das Versagen der eigenen Gruppe den Dienst quittiert: Wie beispielsweise im Falle des Chefs der nationalen Polizeibehörde, der nach dem tödlichen Attentat auf den Ex-Premierminister Abe Shinzō im Juli 2022 zurückgetreten ist.

Wenn ein Familienmitglied unter psychischen Problemen leidet (sich zum Beispiel dazu entscheidet, das Haus nicht mehr zu verlassen und als sogenannter hikikomori zu leben) oder sich als Mitglied der LGBTQ+ Community outet, kann es passieren, dass sich die Familie entweder abwendet oder versucht, diese Person und ihr vermeintliches „Anderssein“ vor der Außenwelt zu verstecken. Alles, um den Schein der Konformität zu wahren und die Familie nicht „zu beschämen“.

Der Versuch, so wenig wie möglich aufzufallen und das verstärkte Bewusstsein für möglicherweise beschämende Handlungen, die auch ein schlechtes Licht auf die eigene Familie werfen könnten, hat also – auch ohne omnipräsenten Konfuzianismus heutzutage – einen starken Einfluss auf das Verhalten vieler Japaner:innen.

Die braunen Tüten

Übrigens, um das Beispiel vom Anfang aufzuklären: So wie auch im Westen die Periode oft als etwas Peinliches oder Zu-Versteckendes angesehen wird, ist das auch in Japan der Fall. Dazu kommt aber, dass im Shintōismus Blut und so auch die Monatsblutung als etwas außerordentlich Unreines und Schändliches angesehen wird – und daher zu verstecken ist. Das geht so weit, dass es Frauen nicht gestattet ist, auf manche besonders heilige Shintō-Berge zu steigen oder dass Hofdamen am Kaiserpalast während ihrer Periode aufgrund der „Unreinheit“ vom Dienst befreit sind.

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Zwar ist Japan ein recht säkularisiertes Land, doch hat der Shintōismus immer noch einen starken Einfluss auf das tägliche Leben der Japaner:innen, sei es in Form von regelmäßigen Gebeten an Schreinen oder Glücksbringern, den omamori – unterbewusst ist das also vielleicht einer der Gründe für die Scham über die Periode und die braunen Tüten. Wenn man übrigens fix genug ist, kann man die Verkäufer:innen auch überzeugen, dass man die Tüte selbst nicht braucht..

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