An buddhistischen Tempeln, doch vor allem an shintoistischen Schreinen in Japan findet man sie fast immer: Bäume, Stangen, Seile oder Zäune, an denen hunderte oder tausende weißer, manchmal auch bunter, Zettelchen wie kleine Schleifen angeknotet sind.
Diese Zettelchen heißen omikuji (御神籤 oder おみくじ, „Gotteslos“), kurz auch mikuji genannt, und meist gibt es sie gegen eine kleine Spende von 100 bis 300 Yen zu erwerben. Manchmal sind sogar kleine Figürchen oder Schlüsselanhänger als Glücksbringer dabei. Die Zettel enthalten Vorhersagen, ähnlich dem Horoskop, zu verschiedenen alltäglichen Lebensbereichen wie Liebe, Gesundheit oder Reisen, aber auch Business- und Prüfungsangelegenheiten. Außerdem verraten sie die persönlichen Glückszahlen.
Göttlicher Beistand
Früher bediente man sich der omikuji, um die Götter bei wichtigen Entscheidungen, wie z.B. zur Erbfolge oder zu Kampfstrategien zu befragen; dies galt als heiliges Ritual. Der heute bekannte Stil wurde vermutlich vor über 700 Jahren eingeführt und basierte auf chinesischen Gedichten, weshalb einige „moderne“ omikuji noch alte Gedichte beinhalten.
Doch nicht nur bei einem Schreinbesuch ziehen die Menschen ihr persönliches Los, der Brauch wird vor allem an Neujahr vollzogen, wenn die Japaner traditionell am 1. Januar bzw. in den ersten Januartagen zu einem Schrein oder Tempel gehen, um die ersten Gebete des neuen Jahres zu sprechen (bekannt als hatsumōde). Dort zieht man ein omikuji, um zu sehen, was das Jahr für einen bereit hält.
In Japan gibt es nur wenige Firmen, die die Orakellose herstellen, und der Großteil stammt vom Unternehmen Joshidōsha, das seinen Sitz in der Präfektur Yamaguchi hat. Ursprünglich war dies eine Frauenrechtlergruppe, die während der Meiji-Zeit (1868-1912) gegründet wurde und die omikuji zur Eigenfinanzierung verkaufte. Später wuchs das „Geschäft“ und die Firma entwickelte sogar einen elektronischen omikuji-Automaten.
Welches Schicksal erwartet mich?
In der Regel zieht man sich sein Los klassisch per Hand. Oft liegen sie in zahlreichen hölzernen Schubladen verteilt, die durchnummeriert sind. Davor steht ein zylindrischer Behälter aus Holz oder Metall mit einem kleinen Loch, aus dem durch kräftiges Schütteln ein kleiner Stab mit einer Nummer herauskommt. Man öffnet die Schublade entsprechend der gezogenen Nummer und holt sich sein persönliches omikuji. Oder man zieht sich sein omikuji klassisch wie ein Glückslos auf dem Jahrmarkt aus einer Box. Welches Schicksal einen erwartet, hängt also völlig vom Zufall ab.
Grundsätzlich unterscheidet man in den Vorhersagungen zwischen „Glück“ (吉, kichi) und „Unglück“ (凶, kyō), doch dazwischen gibt es diverse Abstufungen. Um als Nicht-Japaner grob zu verstehen, was man gezogen hat, hilft diese Legende:
• 大吉 (daikichi) – großes Glück
• 吉 (kichi) – Glück
• 中吉 (chūkichi) – mittleres Glück
• 小吉 (shokichi) – kleines Glück
• 半吉 (hankichi) – halbes Glück
• 末吉 (suekichi) – zukünftiges Glück
• 末小吉 (suekokichi) – kleines zukünftiges Glück
• 大凶 (daikyō) – großes Unglück
• 凶 (kyō) – Unglück
• 小凶 (shokyō) – kleines Unglück
• 半凶 (hankyō) – halbes Unglück
• 末凶 (suekyō) – zukünftiges Unglück
Darüber hinaus kann es je nach Schrein bzw. Tempel noch andere Klassifikationen des eigenen Schicksals geben. Aber keine Sorge: Es heißt, dass es in der Regel mehr gute als schlechte Lose gibt. Neben dieser allgemeinen Einschätzung verraten weitere Sprüche, Gedichte und Absätze mehr zum persönlichen Schicksal.
Die allermeisten omikuji sind in japanischer Sprache geschrieben und aufgrund ihrer lyrischen Natur auch oft in einem eher komplizierten Stil gehalten, sodass es selbst für Japanisch sprechende Ausländer schwer sein könnte, die feinen Nuancen und Bedeutungen zu verstehen.
Manche Schreine und Tempel an touristisch stark frequentierten Orten, wie z.B. der Sensōji-Tempel und der Meiji-Schrein in Tōkyō, sowie der Kinkakuji-Tempel und der Araki-Schrein in Kyōto, bieten omikuji auch in englischer Übersetzung an.
Was mache ich mit meinem Schicksal?
Wenn Sie nun Ihr omikuji gezogen haben, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten: Es erwartet Sie Glück oder eben Unglück. Bei einem unglücklichen Los ist es Brauch, den Zettel auf dem Schrein-/Tempelgelände zurückzulassen, denn auf diese Weise folgt einem das Pech nicht im Alltag, sondern bleibt dort, wo es keinen Schaden anrichten kann.
Oftmals werden Sie dafür Pinienbäume stehen sehen, an denen die Lose angeknotet werden können, denn das japanische Wort für Pinie (松, matsu) ist lautgleich mit dem Wort für „warten“ (待つ, matsu). Mittlerweile stehen dafür aber auch Seile oder Stangen bereit.
Die langen Reihen strahlend weißer Zettelchen sind ein fester Bestandteil der japanischen Schrein- und Tempellandschaften geworden. Sollten Sie jedoch ein glückliches Händchen gehabt haben, dürfen Sie selbstverständlich Ihr omikuji als Glücksbringer mit nach Hause nehmen, damit sich die guten Vorhersagen auch bewahrheiten.
Letztlich bleibt es Ihnen selbst überlassen, wie gut oder schlecht das göttliche Los auf Ihre aktuelle Lebenssituation passt und ob Sie daran wirklich glauben möchten. Es ist eine schöne japanische Tradition und eignet sich wunderbar als Andenken an Ihre Japanreise oder als Souvenir für Ihre Liebsten – oder auch Ihre weniger geliebten Mitmenschen.
Kommentare