Die Präfektur Saitama ist bekannt als „Tōkyōs Bettenstadt“, da viele Menschen von dort nach Tōkyō zum Arbeiten pendeln und nur zum Schlafen heimkommen. Saitama hat allerdings viel mehr zu bieten. Durch die Nähe zur Hauptstadt sind auch Tagesausflüge oder Kurztrips möglich. Es lohnt sich aber auch, eine längere Zeit in der Präfektur zu verweilen und ihre atemberaubende Natur zu entdecken. Beispielweise hat die Region Chichibu einen echten Geheimtipp zu bieten: einen Pilgerweg über 34 Tempel.
Siegelbuch und Zufälle
Ich selbst habe von dem Pilgerweg eher durch Zufall erfahren, als ich den Kannon-in-Tempel in der Stadt Ogano besichtigte. Ich sammle sogenannte Goshuin (御朱印), Kalligrafien mit Siegeln, die man an Tempeln und Schreinen erwerben kann. Diese werden in einem speziellen Stempelbuch, dem Goshuin-chō gesammelt. Leider hatte ich am Tag meiner Besichtigung mein Goshuin-chō zu Hause vergessen. Ich ging also in den kleinen Tempelladen und fragte den freundlichen älteren Herren nach einem Stempelbuch. Er zeigte mir unterschiedliche Exemplare und fragte mich, ob ich ein konventionelles Stempelbuch suche oder das der 34 heiligen Orte von Chichibu.
Die 34 heiligen Orte von Chichibu
Während der Shikoku-Pilgerweg mit 88 Tempeln sowie der Kumano-Kodō-Pilgerweg in der Präfektur Wakayama zumindest den gut vorbereiteten Japan-Reisenden ein Begriff ist, gibt es unweit von Tōkyō eine Alternative, die selbst den meisten Einheimischen nicht bekannt ist. Der „Pilgerweg der 34 heiligen Orte von Chichibu“ (Chichibu reisho 34-ka-sho) umfasst 34 Tempel, von denen die meisten in der Innenstadt von Chichibu liegen. Einige der Tempel befinden sich aber auch außerhalb, inmitten der naturbelassenen Wälder der Berge. Die insgesamt ca. 100 km lange Wanderung kann in einer Woche durchgeführt werden.
Pilgerweg oder Schnitzeljagd?
Nachdem der ältere Herr im Tempelladen mir das alles erklärt hatte, entschied ich mich für das Siegelbuch der 34 heiligen Orte von Chichibu. Ich bat ihn dann gleich darum, mir mein erstes Goshuin anzufertigen. Er öffnete das Buch auf der Seite des Kannon-in, der 31. der 34 Stationen. Dann zückte er einen dicken Pinsel, tränkte ihn in schwarze Tusche und schrieb einen künstlerischen Schriftzug auf die vorgegebene Seite. Anschließend nahm er einen kleineren Pinsel, mit dem er das Datum dazuschrieb. Schließlich presste er noch drei rotorangene Stempel auf die Kalligrafie.
Das traditionelle Sammeln von Goshuin war lange Zeit fast ausgestorben. Vor circa fünf Jahren kam es wieder in Mode und jetzt ist es ein regelrechter Trend in Japan. Goshuin-chō in allen Farben und Designs kann man mittlerweile sogar in Buchläden kaufen . Es gibt Anleitungen zum richtigen Verhalten im Tempel und Infos über die Orte mit den schönsten Stempeln. Man betet zunächst am Tempel und bittet anschließend um ein Goshuin. Mittlerweile betrachten viele Japanerinnen und Japaner das Sammeln der Stempel allerdings eher als eine Freizeitaktivität, die einer Schnitzeljagd gleicht. Wenn man möchte, kann man auch als Tourist an Tempeln beten – die Einheimischen sind demgegenüber sehr offen. Man kann aber auch ohne ein Gebet, ein Goshuin bekommen. Immerhin ist es eine wichtige Einnahmequelle der Tempel, die sich unabhängig vom Staat selbst finanzieren müssen. Ein Goshuin kostet übrigens zwischen 300 und 500 Yen, also zwischen 2 und 3,50 Euro.
Tempelvorstellung: Kannon-in
Der Kannon-in ist ein beeindruckender Bergtempel. Um ihn zu erklimmen, muss man zunächst eine ca. 20-minütige Wanderung hinter sich bringen. Am Eingang am Fuße des Berges steht ein großes rotes Holztor mit grimmig schauenden Wächterfiguren, den Niō , die in den Torpfeilern ihren Posten wahren. Hat man das Tor passiert, kann man sich einen Wanderstock ausleihen, den man im Anschluss einfach wieder zurückstellt.
Als ich den Kannon-in besuchte, war es Mitte September. Auch wenn die Sommerhitze schon etwas nachgelassen hatte, trug ich ein T-Shirt, eine luftige Hose und einen Sonnenhut. Noch immer war es sehr heiß. Am Wegesrand blühten Spinnenlilien, filigrane rote Blumen, die ganz typisch für die Jahreszeit sind. Ich kletterte die Steinstufen empor, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. Immer wieder surrten Insekten neben mir und ich war froh, mein Mückenspray aufgetragen zu haben. Eine Kurve weiter blühten noch Hortensien – die Blumen der Regenzeit im Mai und Juni. Ich konnte es kaum glauben, dass sie den heißen Sommer hier überlebt hatten. Der Weg war gesäumt von Steintafeln mit Weisheiten und Haikus, die den Wanderern Mut zusprechen:
Akai tombo tsukaikirenai sora ga ari
赤とんぼ 使いきれない空が あり
Rote Libelle, der Himmel ist zu groß, um ihn gänzlich zu entdecken
Nach einer letzten Kurve stand ich vor dem Hauptgebäude des Tempels. Es hat ein prächtig geschwungenes Dach und ist unter einen mächtigen Felsvorsprung gebaut. Eine große Glocke ruft die Pilger zum „leise läuten“ auf. Anschließend beten sie am Hauptgebäude, indem sie eine kleine Münze von 5 oder 10 Yen in den Opfertopf werfen, sich einmal verbeugen und anschließend, die Hände aneinandergelegt, die Augen schließen. Nach dem Gebet verbeugen sie sich noch einmal.
Links neben dem Hauptgebäude tropft das Wasser eines kleinen, aber steilen Wasserfalls in einen Teich. Dort schwimmen Koi-Fische, die sich darüber freuen, gefüttert zu werden. Das Futter kann man günstig im Tempelladen erwerben. Hinter dem Hauptgebäude wartet ein 50-minütiger Rundweg, der Higashi-oku-no-in Mini Hiking Course, der noch weiter über die steilen, felsigen Berghänge führt und einen atemberaubenden Blick auf die Tempelanlage ermöglicht. Für die sportlich Aktiven gibt es die Möglichkeit zu einer 1 ½-stündigen Wanderung auf den Gipfel des 698 Meter hohen Berges Kannon-yama.
Ein besonderer Ausflug
Die Besichtigung des Kannon-in-Tempels schafft man in einer Stunde – man kann allerdings auch den ganzen Tag hier verweilen. Auf dem Tempelgelände gibt es einige Bänke mit Ausblick auf die Gebirgslandschaft. In den ausgehöhlten Felsformationen stehen unzählige jahrhundertealte kleine Steinstatuen von Jizō, dem Schutzgott der Kinder.
Mit meinem neuen Stempelbuch im Gepäck machte ich mich auf den Rückweg. Mittlerweile war es nicht mehr so heiß und auch das Surren der Insekten war leiser geworden. Die Sonne stand etwas tiefer und das orangerote Licht der Nachmittagssonne schien durch das zu dieser Jahreszeit noch gänzlich grüne Laub in den Wald. Zurück am Eingang vergaß ich fast, meinen Wanderstock zurückzustellen. Aber die grimmigen Blicke der Tempelwächter-Figuren erinnerten mich daran.
Anfahrt
Mit der Seibu Ikebukuro-Linie erreicht man von der Station Ikebukuro (Tokyo) aus in ca. zwei Stunden den Bahnhof Chichibu, von wo aus man direkt mit der Wanderung beginnen kann. Alternativ fahren Sie mit der Ueno-Tokyo Line vom Bahnhof Tōkyō bis zum Bahnhof Kumagaya, wo Sie in die Chichibu Main Line bis Chichibu umsteigen.
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