Zum Jahresende kommt man in Japan nicht umhin, der 9. Sinfonie an jeder Ecke zu begegnen. Das berühmte Stück von Ludwig van Beethoven spielt im ganzen Land eine so wichtige Rolle, dass viele Japaner nicht nur die Melodie, sondern auch den deutschen Text kennen. Einheimische Konzerte folgen häufig dem Anspruch, die in Japan als Daiku („Die Neunte“ 第九) liebevoll abgekürzte 9. Sinfonie in Originalsprache aufzuführen. Das führt dazu, dass tausende Japaner den deutschen Text der „Ode an die Freude“ singen können, ohne je die deutsche Sprache erlernt zu haben. Das wohl bekannteste Konzert findet seit 1983 jedes Jahr am ersten Sonntag im Dezember mit 10.000 Sängerinnen und Sängern in Ōsaka statt.
Übertroffen wird diese japanische Hingabe zur Daiku wohl nur noch in der Stadt Naruto, dem nordöstlichen Eingangstor zur Insel Shikoku. Sie ist berühmt für ihre Gezeitenstrudel. In keiner anderen japanischen Stadt ertönt jeden Tag um Punkt 18 Uhr im gesamten Stadtgebiet aus öffentlichen Lautsprechern die Melodie der Neunten. Nirgendwo sonst werden Besucher an der örtlichen Fernbushaltestelle von der „Ode an die Freude“ in Empfang genommen. Hier lernen bereits Kinder im Kindergarten den deutschen Liedtext auswendig.
Naruto befindet sich im Beethoven-Fieber und das hat seinen Grund. Denn Naruto rühmt sich damit, asienweit die Heimstätte der Neunten zu sein: Am 1. Juni 1918 führten deutsche Soldaten, die im hiesigen Kriegsgefangenenlager Bandō inhaftiert waren, die 9. Sinfonie nicht nur in Japan, sondern in ganz Asien zum ersten Mal auf.
Programmhefte, Postkarten und weitere Materialien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, die im Deutschen Haus Naruto aufbewahrt werden, zeugen von dieser Geschichte. Ein Ausstellungsbereich erinnert außerdem an den Austausch auf kultureller, wirtschaftlicher und musikalischer Ebene, der sich zwischen Soldaten und den Anwohnern rund um das damalige Lager entwickelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Austausch mit Deutschland wiederbelebt. Er dient der spezifischen Liebe zur 9. Sinfonie in Naruto seitdem als Katalysator.
„Die Neunte” in Naruto
Seit 1982 wird hier in Anlehnung an die asienweite Erstaufführung jedes Jahr am ersten Sonntag im Juni in der Konzerthalle der Stadt die 9. Sinfonie aufgeführt. Rekrutierte sich der Chor für diese Aufführungen zunächst nur aus Bürgerinnen und Bürgern von Naruto, ziehen die Veranstaltungen mittlerweile Chöre aus ganz Japan, den USA, China und der Hansestadt Lüneburg an.
Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch das beherzte Engagement einer Anwohnerin von Naruto namens Takahashi Harue. Diese entdeckte zufällig beim Brennholzsammeln einen mit Gestrüpp überwucherten Gedenkstein und übernahm dessen Pflege. Durch regionale Medienberichte darauf aufmerksam geworden, besuchte der damalige westdeutsche Botschafter im Oktober 1960 Naruto und legte Blumen am Gedenkstein nieder. Nach 40 Jahren des Stillstands lebten die Beziehungen zwischen Naruto und Deutschland wieder auf. Nach und nach trafen Briefe, Dankesschreiben sowie Sach- und Geldspenden von ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen in Naruto ein und Rufe nach einer passenden Gedenkstätte für diese Geschichte der deutsch-japanischen Beziehungen wurden laut.
1972 wurde schließlich ein erstes Deutsches Haus im Fachwerkstil errichtet, das mit seiner Ausstellung zu Bandō 20 Jahre lang als Basis des deutsch-japanischen Austauschs der Stadt Naruto diente, bis es 1993 von einem größeren Neubau ersetzt wurde. Verbunden über den Salzhandel und eine ähnliche Bevölkerungsstruktur gingen Naruto und die Hansestadt Lüneburg 1974 eine Städtepartnerschaft ein. Seither besuchen sich Freundschaftsdelegationen aus beiden Städten ununterbrochen im jährlichen Wechsel – eine intensiv gepflegte Freundschaft, die beispiellos im Reigen der deutsch-japanischen Städtepartnerschaften ist. Sie trägt zur sukzessiven Internationalisierung der Aufführungsreihen der 9. Sinfonie bei. In den Jahren 2001, 2003, 2008 und 2017 wurden drei Ablegerkonzerte in Deutschland und eines in China ausgerichtet.
Das 100-jährige Jubiläum
Das Jahr 2018 markierte schließlich das 100-jährige Jubiläum der asienweiten Erstaufführung und wurde in Naruto vom 1. bis zum 3. Juni 2018 mit einer dreitägigen Konzertreihe gefeiert: Den Auftakt machte eine Freilichtaufführung auf dem Vorplatz des Deutschen Hauses, bei der in Anlehnung an das historische Vorbild nur Männer im Chor mitsangen. Denn auch die deutschen Kriegsgefangenen hatten zu ihrer Zeit auf Frauenstimmen verzichten müssen.
Das traditionelle Konzert in der Konzerthalle wurde aufgrund der großen Nachfrage kurzerhand auf zwei Aufführungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ausgedehnt, die unter großer internationaler Beteiligung mit insgesamt über 1.200 Mitwirkenden verwirklicht wurden. Getreu dem berühmten Liedvers „Alle Menschen werden Brüder“ kamen bei der Aftershowparty Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konzerte mit den Nachfahren der deutschen Kriegsgefangenen zusammen, die auf Einladung der Stadt Naruto angereist waren. Eine Geschichte, die als Feindschaft im Kriege ihren Anfang genommen hat, wird als Geschichte des Friedens und der Freundschaft fortgeschrieben.
Musikalischer Kulturaustausch
Eine solche Geschichte besitzt eine Kraft, die über die Stadtgrenzen von Naruto hinauswirkt. Das besagte Beethoven-Fieber beschränkt sich schon längst nicht mehr nur auf Naruto, sondern hat die gesamte Präfektur Tokushima erfasst. Ausgehend von den historischen Wurzeln des Kriegsgefangenenlagers Bandō und der bereits bestehenden Städtepartnerschaft zwischen Naruto und Lüneburg entstand 2007 eine Regionalpartnerschaft zwischen Tokushima und Niedersachsen.Seitdem werden in verschiedenen Bereichen wie Wissenschaft, Kultur, Sport und Bildung diverse Austauschprojekte vorangetrieben. Partnerschulen haben sich gefunden und die Beziehungen vertiefen sich Jahr für Jahr durch gegenseitige Besuche.
Vor diesem Hintergrund war es selbstverständlich, dass zum großen Jubiläumskonzert der 9. Sinfonie im Februar 2018 in der Stadt Tokushima auch Vertreter aus der Partnerregion eingeladen wurden. Neben offiziellen Vertretern der Regierung wurden auch 100 Schüler und Schülerinnen von fünf niedersächsischen Partnerschulen eingeladen, um als Teil des großen Chors mitzusingen. Für die jungen Leute bildete dies nicht nur eine Gelegenheit, die Kultur Japans kennenzulernen, sondern auch den Stellenwert von Musik als Teil internationaler Verständigung zu erfahren.
Der große Chor setzte sich aus Bewerbern einer japanweiten öffentlichen Ausschreibung zusammen. Am 12. Februar 2018 sangen über 3.000 Choristinnen und Choristen unter Leitung des Dirigenten Akiyama Kazuyoshi die „Ode an die Freude“ im vierten Satz des Konzerts, dabei eben jene 100 Schülerinnen und Schüler aus Niedersachsen sowie fast 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Taiwan. Neben den Gästen aus Deutschland beteiligten sich auch viele junge Menschen aus Tokushima an dem Konzert. Damit zeigen die Jubiläumskonzerte in Naruto und in Tokushima den hohen Stellenwert der Neunten für die gesamte Region. Ganz im Sinne der Botschaft der 9. Sinfonie werben sie für das Zusammentreffen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und die Weitergabe des musikalischen Erbes an die jüngere Generation.
Dieser Text wurde von Lilli Buschmin und Franziska Neugebauer für die Juli 2018-Ausgabe von JAPANDIGEST verfasst und für die Veröffentlichung auf der Webseite nachbearbeitet.
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