Anata, Kimi & Co.: Das japanische „Du“

Aya Puster
Aya Puster

In der japanischen Sprache ist die Bezeichnung „Du/Sie“ nicht so simpel wie im Deutschen: Je nach Kontext und Gesprächspartner variiert die Anrede für das Gegenüber. Nicht selten verrät man dadurch, was man wirklich von dieser Person hält.

Mann, der mit Finger nach vorne zeigt

Im September 2008 gab es in Japan während einer Pressekonferenz mit dem damaligen Premierminister Fukuda Yasuo einen politischen Eklat. Als ein Journalist dessen Rücktrittsrede kritisierte, seine Worte würden in den Ohren des Volkes „teilnahmslos und kalt“ klingen, antwortete Fukuda daraufhin: „Ich kann mich objektiv betrachten. Anata to chigaun desu (Ich bin nicht so wie Sie).“

Eine harmlose Aussage, solange man diese in deutscher Übersetzung zu hören bekommt. Aber dieser letzte Satz Fukudas auf Japanisch erntete massive Kritik und wurde ein Kandidat für die japanische Version des „Unwort des Jahres“. Was lief hier schief?

Laut dem Linguisten Suzuki Takao beruhen japanische Personenbezeichnungen über sich selbst bzw. über die Gesprächspartner auf einer Antithese zwischen meue (Überlegene) und meshita (Unterlegene). Die Bezeichnung anata gehört zur Kategorie meshita. Herr Fukuda hat mit seiner Wortwahl anata praktisch gestanden, dass er die Journalisten, und somit auch das Volk, als ihm unterlegen betrachtet. Insofern sollte die Anrede anata als „du“ übersetzt werden.

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Geschichtliche Entwicklung

Die historische Entwicklung zeigt, dass sich die höfliche Bezeichnung für die 2. Person/en im Laufe der Zeit verändert hat. Die Bezeichnung für die 2. Person kimi, die heute auch mit „du“ übersetzt wird, war früher eine respektvolle Bezeichnung bzw. Anrede für den Kaiser, Herrscher oder andere hochrangige Personen. Irgendwann hat sich die Bedeutung jedoch geändert.

So war es auch mit der Bezeichnung kisama mit dem höflichen Suffix „-sama“. Kisama wurde in der Schriftsprache des Mittelalters noch respektvoll als „Sie“ verwendet. Heutzutage ist kisama nur noch unter männlichen Kumpels gängig und wird oft bei Rangeleien gerufen, um den Gegner zu beschimpfen.

Es gibt weitere ähnliche Bezeichnungen für „Du“:

omae: Bis zur Edo-Zeit (1603-1868) bedeutete das Wort „Ihre ehrenwerte Anwesenheit“ und wurde den Adeligen und Göttern gegenüber benutzt, denn „o“ ist ein Präfix, das Höflichkeit zum Ausdruck bringt (z.B. o-cha = grüner Tee, o-genki = Ihre Gesundheit). Heute wird omae meistens von männlichen Sprechern zum einen als liebevolle Anrede für gute Freunde, zum anderen als beleidigendes Schimpfwort benutzt. Es ist manchmal schwer zu erkennen, in welchem Sinne das Wort verwendet wird.

temae: Das Wort bedeutete ursprünglich „bescheidenes Ich“, wird aber heutzutage besonders in Ostjapan als aggressivere, beleidigende Anrede für die 2. Person benutzt und temē ausgesprochen.

Die Tendenz, die bei diesen Begriffen zu beobachten ist, wird in Japan „Prinzip der abnehmenden Höflichkeit“ genannt. Die ursprünglichen Respektwörter werden in der normalen Bevölkerung immer gängiger verwendet, sodass sie schal werden und ihre respektvollen Nuancen verlieren, weswegen neue Höflichkeitswörter kreiert werden müssen.

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Sonstige Personen-Bezeichnungen, die als „Du“ benutzt werden:

Da die Anrede an die 2. Person so kompliziert ist, werden im Japanischen andere Wörter als Personalpronomen eingesetzt:

boku: Das Wort ist eigentlich eine Selbstbezeichnung eines männlichen Sprechers. Es wird jedoch Kleinkindern gegenüber, die keine Pronomen für die 2. Person kennen, im Sinne von „Du“ benutzt.

Beispiel:
Eine fremde Frau: Boku ikutsu? – Wie alt bist du?
Kind: Boku futatsu. – Ich bin zwei Jahre alt.

jibun: In bestimmten Regionen, wie z.B. in Kansai, wird das Wort, das normalerweise in der 1. Person „sich selbst“ bedeutet, auch als „Du“ eingesetzt.

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Bezeichnungen für ältere Familienmitglieder wie otō-san (Vater), onī-san (großer Bruder), onē-san (große Schwester), obā-chan (Oma), ojī-chan (Opa), oji-san (Onkel), oba-san (Tante) werden oft im Sinne von „Du“ benutzt, wobei die Anrede vom Standpunkt des jüngsten Mitglieds der Familie gewählt wird.

Beispiel: Eine Frau sagt…

…zu ihrem Ehemann: Otō-san, bīru nomu? – Trinkst du (Väterchen) Bier?

…zum älteren Kind: Onī-chan wa jūsu? – Trinkst du (großer Bruder) Saft?

…zu ihrer Mutter: Obā-chan wa ocha? – Trinkst du grünen Tee, Mutti (Oma)?

Ähnlich wie oben wird man oft, z.B. in Geschäften, je nach seiner eigenen Rolle unterschiedlich angesprochen:

  1. Oku-san/okā-san, kyō wa ii sakana ga yasui yo! – Liebe fremde Ehefrau/Mutti, heute sind gute Fische günstig zu haben!
  2. Onī-san, chotto kite. – Kommen Sie bitte her, junger Mann!
  3. Onē-san, kore wa ikaga desu ka. – Liebes Fräulein, wie gefällt Ihnen dieses Produkt?
  4. Obā-chan, kyō wa genki? – Geht es dir gut, Oma? (z.B. ein Pfleger zur Altenheimbewohnerin)

Aber bitte Vorsicht mit der Anrede oba-san /oba-chan (Tante) für Frauen mittleren Alters! Diese fühlen sich meistens nicht geschmeichelt, wenn sie so angesprochen werden.

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