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Tatami: 6 Fakten, die Sie wahrscheinlich noch nicht kannten

Michael Neuber
Michael Neuber

Jeder hat Tatami schon gesehen und so mancher träumt vielleicht von der Anschaffung dieser Matten für das eigene Heim. Während in Japan die Nachfrage an Tatami-Matten sinkt, hat dieser natürliche Bodenbelag längst seinen Weg in westliche Länder gefunden.

Tatami-Raum
Den Bodenbelag Tatami findet man vor allem in traditionellen japanischen Räumen, den "washitsu".

Wärmedämmend im Winter, erfrischend im Sommer, haptisch angenehm und einfach entspannend sind sie: Tatami-Matten, ein Schlüsselelement der traditionellen japanischen Architektur. Einst nur ein Privileg von Samurai-Kriegern und Hofadeligen, haben sie allmählich ihren Luxusstatus verloren. So verfügen heutzutage viele Häuser über einen Tatami-Raum, der als Schlaf- bzw. Gästezimmer verwendet wird.

Bedauerlicherweise ist die Nachfrage nach Tatami-Matten in Japan in den letzten 20 Jahren um ein Drittel gesunken. Auf der anderen Seite steigt in westlichen Ländern das Interesse an einem natürlichen, minimalistischen und nachhaltigen Lebensstil.

Ob in einem Tempel, traditionellem Gasthof oder Restaurant – auf Ihrer Japan-Reise werden Sie sicher einmal die Gelegenheit haben, die Annehmlichkeiten von Tatami-Matten am eigenen Leib zu erfahren. Um Ihnen diese Erfahrung „schmackhaft“ zu machen, finden Sie hier wissenswerte Aspekte über diese Ikone japanischer Wohnkultur.

1. Drei wesentliche Bestandteile der Tatami

Traditionelle Tatami sind ca. 5,5 cm dick und bestehen aus gepressten Reisstrohballen (wara, 藁), sowie einer Oberfläche aus Binsengras (igusa, イグサ). Dekorativ bestickte Stoffbänder umsäumen meist zumindest die zwei Längskanten der Matten. Ungefähr einen Tag braucht ein Tatami-Handwerker, um eine Matte in Handarbeit anzufertigen. Eine Maschine schafft dies in lediglich 30 Minuten.

Genau genommen unterscheidet man drei Bestandteile: tatami-doko (畳床), tatami-omote (畳表) und tatami-beri (畳縁):

  • Für das Innere der Tatami (tatami-doko) wird traditionell gepresstes, festgebundenes Reisstroh verwendet. Dabei wird ein 40 cm dicker Reisstrohballen auf ca. 5,5 cm heruntergepresst. Da sich aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit im Sommer häufiger Milben einnisten und Tatami aus natürlichem Reisstroh weniger pflegeleicht sind, werden in letzter Zeit Styropor für den Innenkern und komprimierte Holzspanplatten in sog. Sandwich-Anordnung als Materialien genutzt.
  • Für die Oberfläche (tatami-omote) verwendet man Binsengras. Neue Tatami haben eine grüne Oberfläche, die sich besonders bei intensiver Sonneneinstrahlung gelb-bräunlich verfärbt. Diese Verfärbung wird in Japan als positiv angesehen, denn sie zeugt vom Leben und der Geschichte der Tatami. Der grasige, leicht süßliche Geruch ist angenehm erfrischend, verliert aber nach längerer Benutzung seine Intensität. Das Binsengras besitzt luftreinigende und kühlende Eigenschaften, die es ideal für die schwülen Sommer in Japan machen.
  • Schön bestickte Stoffbänder, die lediglich eine dekorative Funktion haben, umschließen die Ränder (tatami-beri) der Matten.

Bisher kam als Material meist Baumwolle oder Hanf zum Einsatz, doch heutzutage sind auch synthetische Materialien üblich, da sie billiger, robuster und pflegeleichter sind.

Tatami
Tatami-Matten bestehen im Wesentlichen aus einem Strohkern, einer Oberfläche aus Binsengras und hübsch dekorierten Stoffrändern. © kyo-tatami.com

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2. Die Geschichte der Tatami kurz erklärt

Das japanische Wort Tatami geht auf das Verb tatamu (畳 む) zurück und bedeutet “zusammenlegen”. Schon im Kojiki, Japans erste schriftliche Aufzeichnung aus dem Jahre 712, finden sich Hinweise, dass Tatami, anders als heute üblich, kleiner und dünner waren, sodass sie bei Nichtgebrauch zusammengelegt und weggeräumt werden konnten.

In der Heian-Zeit (794-1185) stellte man dickere Reisstrohmatten in standardisierten Größen her, die nur als Schlaf- und Sitzunterlage Verwendung fanden. Während der Muromachi-Zeit (1336-1573) waren Tatami vor allem Samurai-Familien und Adeligen vorbehalten. Erst dann legte man ganze Räume mit Tatami aus. Als die bürgerliche Kultur in der Edo-Zeit (1603-1868) aufblühte, konnten sich schließlich auch wohlhabende Bürger bzw. Kaufleute Tatami leisten. Erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Tatami ein fester Bestandteil japanischer Haushalte geworden.

3. Ein japanisches Standard-Zimmer ist 6 jō groß

Während man in Deutschland Wohnungen und Häuser in Quadratmetern misst, muss man sich in Japan an neue Maßeinheiten gewöhnen. Japaner messen die Größe eines Zimmers oder einer Wohnung mit der Anzahl von Tatami-Matten. Ein Standard-Zimmer fasst etwa 6 Reisstrohmatten, also 6 jō (畳), dies sind ungefähr 9,72 m². 4 1/2 Matten werden als klein angesehen, 8 bis 10 Matten gelten bereits als großzügig.

Und wie groß sind nun die Tatami? Interessanterweise variiert die Größe abhängig vom Herstellungsgebiet. Eine Tatami ist rechteckig, einen sogenannten ken (間) lang und einen halben ken breit, d.h. bei dem üblichen Maß ca. 180 cm x 90 cm. In Kyōto und West-Japan sind sie jedoch etwas größer.

Es gibt weiterhin quadratische Matten, die z.B. im Kampfsportbereich wie Jūdo oder Jū-Jutsu verwendet werden. Diese bestehen allerdings nicht aus Stroh, sondern aus synthetischen Materialien wie Vinyl und Schaumstoff.

Tatami-Raum
Ein typisches Tatami-Zimmer, bestehend aus 6 Tatami-Matten.

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4. shūgishiki oder fushūgishiki – Wie man Tatami platziert

 Traditionell wurden Tatami nach den folgenden Prinzipien angeordnet:

  1. Die Ecken von vier Matten sollten sich niemals berühren.
  2. Vermeiden einer Linie, die das gesamte Tatami-Arrangement durchzieht.
  3. In einer Raumaufteilung sollte nur eine Matte halber Größe verwendet werden.

In der Edo-Zeit unterschied man zwischen “glückverheißenden” (shūgijiki, 祝儀敷き) Tatami-Arrangements und “ungünstigen” (fushūgijiki, 不祝儀敷き) Tatami-Arrangements. Dem Anlass entsprechend platzierte man die Matten um.

Im normalen Alltag wird standardmäßig die “glücksbringende” Anordnung verwendet. Hier bilden die Übergänge der Tatami eine “T”-Form. In der “ungünstigen” Anordnung sind die Tatami in einem Gittermuster angeordnet, wobei die Übergänge eine “+”-Form bilden. Diese findet man üblicherweise bei Bestattungszeremonien, von der es heißt, sie solle das Unglück fernhalten. Zusätzlich werden die Tatami-Matten auf diese Weise nicht leicht beschädigt und können einfacher ausgetauscht werden.

Tatami-Anordnung
Es gibt zwei generelle Anordnungen von Tatami-Matten: die "Glück" sowie die "Unheil" verheißende Anordnung.

5. Washitsu: Multifunktionaler japanischer Raum für Minimalisten

Auch wenn die meisten Wohngebäude in Japan heutzutage im westlichen Stil mit Holzboden ausgelegt sind, haben viele japanische Familien ein traditionell japanisches Zimmer mit Tatami-Matten (washitsu, 和室).

Betritt man ein japanisches Haus, zieht man seine Schuhe im Eingangsbereich (genkan, 玄関) aus. Diese Gewohnheit gilt insbesondere für Tatami-Räume, die man stets nur mit Socken oder barfuß betreten sollte. Schuhe auf Tatami sind ein absolutes No-Go, unter anderem auch wegen der empfindlichen igusa-Bedeckung.

Was für uns das hochwertige Parkett ist, sind für viele Japaner die Tatami-Matten. Auf den behaglichen Reisstrohmatten schläft, sitzt und isst man. Zum Schlafen breitet man die in Japan dünnen Baumwoll-Futon-Matratzen auf den Tatami aus. Nach dem Aufstehen werden sie auf dem Balkon in der Sonne zum Trocknen aufgehängt und anschließend aufgerollt im Wandschrank verstaut. So schafft man tagsüber Platz, um das Schlafzimmer als Wohn- bzw. Essbereich zu nutzen.

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Sitzen in Froschperspektive – Stühle ohne Beine

Die Verwendung von Tatami-Matten bestimmt natürlich auch die Art der Möbel, die Japaner benutzen. Stuhlbeine und Füße schwerer Möbelstücke hinterlassen schnell unschöne Abdrücke auf der igusa-Oberfläche. Daher sitzt bzw. kniet man auf flachen Bodenkissen, den zabuton (座布団) oder niedrigen Stühlen ohne Beine, aber mit Rückenlehne. Die Tische haben entsprechend niedrige Tischbeine.

Wenn man auf Tatami bzw. auf dem Boden sitzt, kommt man sich womöglich vor, wie in dem Film „Tokyo Story“ von dem renommierten Filmregisseur Ozu Yasujirō. Viele der Dialoge des Films spielen in dieser bodennahen Perspektive, aus der die Welt ein wenig anders aussieht. Ohne Schuhe auf Reisstrohmatten sitzend, begegnet man sich in entspannterer Atmosphäre auf Augenhöhe und Hierarchien werden leichter abgebaut.

Washitsu
"Washitsu" gehören in traditionellen japanischen Herbergen zum Inventar. © Filiz Elaerts / Unsplash

6. Kurioses – East meets West

 Im Sommer 2017 wurde das weltweit erste Starbucks im japanischen Stil im traditionellen Viertel Ninenzaka in Kyōto eröffnet. Mitten in dem bei Touristen beliebten, historischen GionViertel kann man sich hier nach einem anstrengenden Stadtrundgang bei einem Kaffee oder Matcha erholen.

Das Starbucks Coffee Kyōto Ninenzaka Yasaka Chaya befindet sich in einem traditionellen, über 100 Jahre alten Sukiya-Teehaus aus der Taishō-Zeit (1912-1926). Im ersten Stock gibt es Räume mit Tatami, wo man auf sich auf zabuton sitzend in alte Zeiten versetzt fühlt. Der Laden fügt sich gut in die alte Kyōto-Architektur ein und verbindet gekonnt japanische, traditionelle Ästhetik mit der Starbucks-Café-Kultur.

Bei einer Japanreise sollten Sie auch die Gelegenheit wahrnehmen, in einer traditionell japanischen Herberge (Ryokan) auf einem Tatami-Boden zu schlafen. Oder warum nicht gleich japanische Lebensgewohnheiten in den eigenen vier Wänden übernehmen? Mittlerweise gibt es in Europa viele Anbieter von Futons und sogar Tatami-Matten zu erschwinglichen Preisen.

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