Kawakami Miekos “Brüste und Eier” revolutioniert die Literaturwelt

Constanze Thede
Constanze Thede

Kawakami Mieko scheut sich in ihrem neuen Roman "Brüste und Eier" nicht davor, gesellschaftliche Tabuthemen anzusprechen. Damit trifft sie einerseits einen Nerv unserer Zeit, spricht aber auch das urmenschliche Bedürfnis an, nach dem Sinn der eigenen Existenz zu forschen.

Kawakami Mieko vor rotem Vorhang
Kawakami Mieko © Wakaba Noda

Es sind meistens die ersten Sätze eines Romans, die den Ausschlag geben, ihn entweder aus der Hand zu legen oder mit der Lektüre fortzufahren. Im Falle von Kawakami Miekos “Brüste und Eier” war ich von Anfang an so gefesselt, dass ich geradezu süchtig wurde. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Figuren nicht etwa im Milieu der Reichen und Schönen bewegen, welches normalerweise den Großteil des Medieninteresses auf sich zieht. Dieses Buch erlaubt einem endlich einmal einen Blick in einen Teil Japans, der zumindest in den hiesigen Medien so gut wie gar nicht auftaucht – die prekäre Lebenswelt derer, die sich am Rande des Existenzminimums befinden. Die Thematik allein reicht aber nicht, um ein Buch spannend zu machen – es braucht auch die geschickte Hand einer Autorin, die mit ihren gezielt ausgewählten Formulierungen und Metaphern mitten ins Herz trifft. So eine ist Kawakami Mieko, wie schon der erste Abschnitt von “Brüste und Eier” zeigt:

Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist. Was er aß oder wie er sich kleidete, spielt keine Rolle. Um herauszufinden, wie arm jemand war, muss man ihn nach der Zahl seiner Fenster fragen. Genau, der Zahl seiner Fenster. Je weniger Fenster jemand hatte – falls er überhaupt eines hatte – desto größer die Armut. (Kawakami 2020: 2).

Eine Erzählung aus erster Hand

Wie Kawakami Mieko berichtete, hatte sie selbst sogar eine noch entbehrungsreichere Kindheit als ihre Romanfigur Natsume Natsuko, und dies will schon etwas heißen, denn auch im Buch wird ungeschönt geschildert, wie hart das Leben für Natsuko und ihre Familie ist. Als Kinder müssen sie und ihre Schwester miterleben, wie die Mutter sie eines Tages ins Auto zerrt, vermutlich um sich vor dem gewalttätigen Vater und Ehemann in Sicherheit zu bringen, doch so genau erklärt dies der Siebenjährigen niemand. Die Familie ist so arm, dass Natsuko und ihre ältere Schwester Makiko schon als Kinder arbeiten müssen, um zum Familieneinkommen beizutragen. Die Mutter stirbt bereits als Natsuko 13 wird, und fortan wird das Leben für  die beiden Schwestern noch härter.

Da auch die Mutter in einer Hostessenbar gearbeitet hat, liegt es den Schwestern nicht fern, ebenfalls dort zu arbeiten, schließlich kennt Natsuko dieses Umfeld schon seit ihrer Grundschulzeit. Anders als ihre Schwester, die mit Ende Dreißig immer noch in einer solchen Bar in Ōsaka tätig ist, schafft Natsuko es jedoch, aus der ewigen Spirale der Gelegenheitsjobs zu entkommen und sich als Schriftstellerin einen Namen zu machen. Sie arbeitet als Kind zwar kurzzeitig in der Bar, in der auch ihre Mutter damals tätig ist, doch nur in der Küche und hinter dem Tresen. Ihrer Schwester dagegen gelingt es nicht, sich aus den prekären Verhältnissen, in die sie hineingeboren wurde, zu befreien. Sie schlägt als Hostess und Alleinerziehende letztlich denselben Weg ein wie die Mutter. Auch hier greift Kawakami auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück, denn bevor sie als Autorin bekannt wurde, arbeitete sie selbst in einer Hostessenbar, um sich finanziell über Wasser zu halten.

Es geht um die menschliche Existenz

Im ersten Teil des Buches stehen Makiko und deren Tochter Midoriko im Mittelpunkt der Erzählung. Die 30-jährige Natsuko wohnt zu diesem Zeitpunkt bereits in Tōkyō, wo sie den Familienbesuch aus Ōsaka empfängt. Ihre Schwester ist allerdings nicht allein, um sie zu sehen, in die große Stadt gekommen, sondern in erster Linie, um sich einer Brustvergrößerung zu unterziehen. Lang und breit setzt sie der von ihren Ambitionen eher befremdeten Natsuko auseinander, welche verschiedenen Operationswege es gibt und für welchen sie sich nun entschieden hat. Die 11-jährige Midoriko plagt sich derweil mit ganz anderen Problemen herum: Sie hat Angst davor, ihre erste Periode zu bekommen und hadert mit diesem unausweichlichen Schicksal. Diese Gedanken teilt sie jedoch nicht mit ihrer Mutter, sondern nur mit ihrem Tagebuch, aus dem wir Auszüge zu lesen bekommen.

Es geht in Kawakamis Buch auch um das Frausein im biologischen Sinne und wie sich dies anfühlt. Wie sie auch im Autorenkommentar zur japanischen Originalausgabe schreibt, sind Leben und Tod hier essenzielle Themenfelder. So dreht sich der zweite Teil des Romans ganz um den Wunsch der nun 38-jährigen Natsuko, trotz Partnerlosigkeit ein Kind zu bekommen. Die Protagonistin stellt sich auf ihrer Suche nach dem richtigen Weg tiefgehende Fragen, die sich um die menschliche Existenz an sich drehen. Sie denkt über eine Samenspende nach und hört sich die Geschichten Betroffener an, die auf diesem Wege zur Welt gekommen sind. Das macht die Entscheidung allerdings nicht leichter:

»Sie werden das nicht verstehen«, sagte Yuriko Zen und schnaubte kurz durch die Nase. »Aber ich frage mich einfach: Wie kann man das nur tun? Wie kann man nur ein Kind auf die Welt bringen? Das frage ich mich. Wie kann man kalt lächelnd so gewalttätig sein? Ein Wesen herauszuzerren, das nie die Absicht hatte, auf die Welt zu kommen. Es auf die Welt zu bringen, nur weil man es selbst will« (Kawakami 2020: 404)

Kawakami Mieko
Die Autorin Kawakami Mieko

Absolut empfehlenswert

Wie Kawakami im Autorenkommentar schreibt, ist »Brüste und Eier« ihr bisher längstes Werk und der Schreibprozess lief beinahe unbewusst ab, so dass sie sich im Nachhinein kaum noch daran erinnern könne und Gefühle wie Angst oder Unsicherheit völlig verschwanden. Dies spürt man, wenn man den Roman liest, denn hier werden nicht nur Themen wie Samenspende und Schönheitsoperationen kritisch durchleuchtet, der Mensch wird auch bloßgestellt in seinem Versuch, das Leben und die menschliche Existenz zu kontrollieren ohne jedoch Einfluss auf die Folgen nehmen zu können. Als ob einem das Werk eine höhere Wahrheit offenbaren würde, wird man auch als Leser hineingesogen in diese Erzählung und hängt bis zum letzten Wort dieser großartigen Erzählerin an den Lippen in der Hoffnung, Antworten auf Fragen zu finden, die sich doch nie beantworten lassen: Was ist der Sinn des Lebens? Haben wir das Recht, über Leben und Tod zu bestimmen?

Der Roman ist auch ein Spiegel der japanischen Gesellschaft, die es beispielsweise alleinstehenden Frauen nicht erlaubt, eine Samenspende in Anspruch zu nehmen, weshalb Natsuko sich an eine Klinik in Dänemark wendet. Durch die Lektüre erfährt man einiges über Japan, was man vorher noch nicht wusste – unter anderem auch über die Rechte von weiblichen Singles und Homosexuellen. Da die Themen, die Kawakami hier behandelt, so kontrovers sind, kann sich sicherlich nicht jeder zu hundert Prozent mit den Romanfiguren identifizieren – dennoch sollte man sich dieses Werk nicht entgehen lassen, denn es erweitert den Horizont und regt dazu an, sich mit den genannten Themen noch einmal aus einer anderen Perspektive heraus zu befassen.

Romancover: Brüste und Eier (Mieko Kawakami)
© DuMont-Buchverlag 2020

“Brüste und Eier” von Kawakami Mieko

Dumont-Buchverlag, 496 Seiten

Erschienen am: 18.08.2020
ISBN 978-3-8321-8373-8

Aus dem Japanischen von Katja Busson (Originaltitel: Natsumonogatari)

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