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Rezension: „Die Erinnerungsfotografen“ von Hiiragi Sanaka

Constanze Thede
Constanze Thede

Die Autorin Hiiragi Sanaka befasst sich in ihrem Roman „Die Erinnerungsfotografen“ auf ungewöhnliche Weise mit dem Thema Tod und Erinnerung. Mit ihrem poetischen Erzählstil bringt sie uns drei berührende Schicksale näher und lädt zum Reflektieren über das eigene Leben ein.

© 2023 Hoffmann und Campe

Hiiragi Sanaka ist in Deutschland eine noch unbekannte Größe, dabei gewann sie mit ihrem Debütroman „The Marriage Hunting Dream Team“ in Japan bereits eine Auszeichnung. Die Erzählung „Die Erinnerungsfotografen“ ist ihr erster auf Deutsch erschienener Roman und geht gleich zu Herzen.

Die Handlung ist an einem ganz besonderen Ort angesiedelt: Das Fotostudio von Herrn Hirasaka befindet sich zwischen dem Diesseits und Jenseits. Die Verstorbenen, die er dort empfängt, lassen ihr Leben noch einmal Revue passieren und suchen sich für jedes ihrer Lebensjahre ein Foto aus, das einen für sie bedeutenden Moment repräsentiert. Denn bevor sie bei Herrn Hirasaka eintreffen, bekommt dieser ein Paket geliefert, dass ein Foto für jeden einzelnen gelebten Tag des oder der Verstorbenen enthält. Im Fotostudio darf sich die betreffende Person noch ein letztes Mal lebendig fühlen, mit Herrn Hirasaka plaudern, und sich aus dessen umfangreicher Kamerasammlung ein Modell aussuchen. Besonders geliebte Erinnerungen sind nämlich mit der Zeit verblasst und so bekommen Sie die Chance, sich eine herauszupicken, die sie „wiederherstellen“ möchten. Dafür reisen sie gemeinsam mit Hirasaka an den Ort des damaligen Geschehens und halten dieses mit der Kamera fest.

Drei unterschiedliche Schicksale

Genau wie die Romanfiguren selbst wissen wir zu Beginn der Geschichte nicht, was uns in Herrn Hirasakas Fotostudio erwartet und was für ein Ort das überhaupt ist. Die erste Romanfigur, die wir bei ihrem Besuch dort begleiten, ist Hatsue, eine liebenswürdige ältere Dame, deren liebste Erinnerung sich Ende der 1940er Jahre abspielt. Mit dieser Geschichte wählt die Autorin einen sanften Einstieg in das Thema, da die alte Dame auf ein langes und ausgefülltes Leben zurückblicken kann, bevor sie sich in Frieden von dieser Welt verabschiedet.

Ganz anders sieht es mit dem zweiten Protagonisten aus, denn der rauhe Waniguchi war ein Yakuza-Boss, der alles andere als friedlich aus dem Leben geschieden ist. So fällt es ihm zunächst auch schwer, sich darauf einzulassen, Erinnerungsfotos herauszusuchen, da er sein Leben für nicht besonders erinnerungswürdig hält. Doch Hirasaka schafft es mit seiner ruhigen Art, sich auf den widerspenstigen Gast einzulassen und so begreift auch Waniguchi, dass jedes Leben es wert ist, einen Blick zurück zu werfen, und man so sogar auf den einen oder anderen Schatz stoßen kann.

Den Atem anhalten muss man zunächst bei der dritten Geschichte, da es hier um ein kleines Mädchen namens Mitsuru geht, das zuhause misshandelt wurde. Hirasaka muss das Mädchen, das noch jung ist, um genau begreifen zu können, was ihr Schreckliches zugestoßen ist, erst aus der Reserve locken. Letztlich nimmt er ihr die Entscheidung ab, wohin sie ihren letzten Ausflug machen. Überraschenderweise tut sich eine Verbindung zu der Geschichte der alten Dame vom Anfang des Buches auf, sodass der Roman zu einem gelungenen und runden Abschluss kommt.

Tiefgründige Geschichte mit Retro-Touch

Doch das Schicksal einer Person ist bisher unerwähnt geblieben: Hirasaka selbst ist eine sehr ungewöhnliche Person, die es versteht, auf jeden Gast individuell einzugehen und diesen behutsam bei der Auswahl seiner Lebenserinnerungen zu begleiten. Sein Fotostudio hat er bewusst auf diese speziellen Bedürfnisse zugeschnitten. Neben einer reichen Auswahl an exzellenten Kameras hat er auch ein Fotolabor, in dem er die Bilder ganz klassisch im Wasserbad entwickelt, und außerdem eine Drehlaterne, in die die Fotos, die sich die jeweilige Person ausgesucht hat, eingesetzt werden. Wie die alte Dame Hatsue erwähnt, bezieht sich diese Drehlaterne auf eine japanische Redewendung, nach der im letzten Moment vor dem Tod die Bilder des Lebens in einem Wirbel an einem vorbeirauschen, als wären sie eben genau an einer solchen Laterne befestigt. Hirasakas liebevoll gestaltetes Fotostudio wirkt wie aus einer anderen Zeit ohne Computer und Smartphones.

Die Idee, dass die Verstorbenen nicht mit einem Schlag aus dem Leben scheiden, sondern sich Zeit nehmen können, um zu reflektieren und dankbar auf schöne Zeiten zurückzublicken, lässt einen ebenfalls innehalten und trifft ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Hiiragi lädt uns mit ihrer poetischen, detailgenauen Erzählung zum Nachdenken ein und macht deutlich, was für ein Geschenk ein gelebtes Leben ist und wie universell es ist, sich zu erinnern. Das Fotostudio bietet dafür die perfekte Kulisse und sorgt auch ein wenig für nostalgische Wehmut.

Die Lebensweisheiten, die Hiiragi vermittelt, sind universell, und doch hat ihre Geschichte auch etwas typisch Japanisches, da man beispielsweise vom Fotostudio aus Blick auf einen japanischen Garten hat und immer wieder Bezug zur japanischen Mythologie und Folklore genommen wird. So hält die alte Dame Hirasaka zunächst für eine Art „König der Unterwelt“ und glaubt, dass sein Name sich auf den Hades Hirasaka Yomotsu im kojiki bezieht. Hirasaka stellt aber schnell klar, dass er „nur ein Wegbegleiter“ sei (S. 12-13).

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Wunderbar bewegend

Die Autorin Hiiragi schafft es in dieser wunderbaren Geschichte, uns ganz direkt an den bewegenden Schicksalen der drei Protagonisten teilhaben zu lassen. Hirasaka, der eigentliche Star des Romans, bleibt scheinbar im Hintergrund und hat schlussendlich doch großen Einfluss, was uns jedoch erst ganz am Ende offenbart wird. Hiiragi gelingt es, dem Tode seinen Schrecken zu nehmen und mit Hirasakas Fotostudio einen fantastischen Sehnsuchtsort zu schaffen. Eins ist sicher: Wenn es diesen Ort tatsächlich gäbe, fiele es vielen leichter, am Ende des Lebens Abschied zu nehmen. Die Erzählung ist inspirierend und regt dazu an, schon zu Lebzeiten Erinnerungsfotos liebevoll aufzubewahren und auf die eigene Geschichte zurückzublicken. Auch wenn Sie kein spezielles Faible für Japan oder Kameras haben, werden Sie sich von Hiiragis poetischer Sprache und sanfter, jedoch nie klischeehafter Erzählweise angesprochen fühlen.

Die Erinnerungsfotografen

Roman von Hiiragi Sanaka

Erschienen am: 02. August 2023

Verlag: Hoffmann und Campe

176 Seiten

Aus dem Japanischen von Sabine Mangold und Yukiko Luginbühl

Buchcover "Die Erinnerungsfotografen"

Die Autorin

Hiiragi Sanaka (*1974) studierte Literaturwissenschaften und Japanisch als Fremdsprache in Kōbe und arbeitete im Ausland als Japanischlehrerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie hat eine große Leidenschaft für Kimonos und Kameras und veröffentlichte einige Kurzgeschichten in Fotografie- und Kameramagazinen. Ihr Roman „Die Erinnerungsfotografen“, in dem dieses Steckenpferd deutlich zum Ausdruck kommt, erschien in Japan 2019. Auch in ihrem 2022 erschienenen Nachfolgewerk Tengoku kara no takuhaibin („Eine Lieferung aus dem Himmelreich“), spiegelt sich ihr umfangreiches Kamerawissen wider, da es von drei jungen Frauen an einer Fotoschule handelt.

Autorin Hiiragi Sanaka
© frei

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