Silvester in Japan: Zwischen Tempeln & Irish Pubs

Isabelle Kullat
Isabelle Kullat

Silvester in Deutschland – das ist der Duft von Feuerwerksrauch in der kalten Nachtluft, das Klingen von Gläsern und das Knallen der Raketen. Ein Brauch, der im Ausland öfters für erstaunte Reaktionen sorgt. Doch wie beginnt man das neue Jahr in Japan? Ich durfte bislang drei unterschiedliche Varianten erleben.

Der im Jahr 211 gegründete Sumiyoshi Taisha in Ōsaka zählt zu den ältesten Schreinen Japans, berühmt für seinen einzigartigen Sumiyoshizukuri-Baustil. © SuriyaDesatit / iStock

Mein erstes japanisches Neujahr verbrachte ich als Austauschschülerin in Takasaki (Präfektur Gunma). Dort wohnte ich bei meiner Gastfamilie. Statt Bleigießen, Böllern und Bier erwartete mich ein traditionsreiches Fest voller Ruhe, Ritual und Fernsehen – viel Fernsehen. Der Klassiker zum Jahresende ist die Musikshow Kōhaku Uta Gassen des öffentlich-rechtlichen Senders NHK. Ein musikalischer Wettstreit zwischen Team Weiß (Männer) und Team Rot (Frauen), bei dem Schlagergrößen, Popsternchen und Idol-Gruppen um die Gunst des Publikums singen. Die genauen Regeln habe ich nie verstanden. Meine Familie allerdings hatte einen anderen Favoriten: Gaki no Tsukai – No Laughing Batsu Game. Eine Silvestersendung, bei der Comedians 24 Stunden lang durch eine bizarre Szenerie geschickt werden – etwa ein Spukhotel, ein Polizeirevier oder ein Krankenhaus – und dabei unter allen Umständen nicht lachen dürfen. Tun sie es doch, werden sie mit Klatschen auf den Hintern, Wasserfontänen oder schrillen Sirenen bestraft. Ein Fest für Freunde des japanischen Humors. Für Außenstehende manchmal eine Mischung aus Sadismus und „Darf man das?“. 2020/21 lief die letzte Ausgabe. Man munkelt, Eltern hätten sich über den erzieherischen Wert beschwert: Schließlich soll man in der Schule nicht lernen, dass es lustig ist, andere mit Gummibällen zu beschießen.

Brennende Daruma beim Ritual: Die Figuren werden dem Feuer übergeben, um erfüllte Wünsche zu ehren und neue Wege zu öffnen. © banabana-san / iStock

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Am Morgen des 1. Januar ging es zum Tempel. Takasaki ist berühmt für seine Daruma-Figuren – jene knallroten Glücksbringer mit wildem Blick und ohne Pupillen. Meine Gastfamilie kaufte mir einen für 2011. Wer sich erinnert, weiß: Es sollte mit Natur- und Atomkatastrophe kein einfaches Jahr für Japan werden. Trotzdem steht mein Daruma bis heute in meinem Regal. Eigentlich hätte ich ihn im darauffolgenden Jahr dem Tempelfeuer übergeben sollen, so will es der Brauch. Aber ich konnte mich nicht trennen. Stattdessen habe ich dabei zugesehen, wie andere Daruma-Figuren feierlich verbrannt wurden – eine beeindruckende Szene zwischen Symbolik und Flammenmeer.

Zum Jahresbeginn genießen Familien in Japan Osechi-Ryōri, dessen vielfältige Speisen jeweils einen guten Wunsch für die Zukunft verkörpern. © yasuhiroamano / iStock

Neujahr in Tōkyō

Mein zweites Neujahr in Japan verbrachte ich in der größten Metropole der Welt. Wer hier nun an rauschende Partynächte, riesige Feuerwerke und überfüllte Clubs denkt, wird überrascht sein: Das japanische Oshōgatsu ist ein ruhiges, traditionsreiches Familienfest und damit so ziemlich das Gegenteil von „urbanem Ausnahmezustand“. Tōkyō selbst wirkt in dieser Nacht fast entschleunigt. Viele Bewohner verlassen die Stadt, um das neue Jahr im Kreis der Familie auf dem Land zu begrüßen. Zurück bleiben nächtliche Wanderer, Touristen und ein paar Einheimische, die auf der Suche nach einem offenen, einladenden Ort sind.

Golden Gai im Herzen Shinjukū bewahrt seinen Charme der Nachkriegszeit, mit über 200 winzigen Bars, in denen nur wenige Gäste Platz finden. © Aylata / iStock

Unsere kleine Gruppe verschlug es schließlich nach Golden Gai, jenes legendäre Barviertel in Shinjuku, in dem sich winzige Kneipen wie Bauklötze aneinanderreihen. Kaum eine Bar fasst mehr als fünf oder sechs Gäste, und oft fühlt man sich eher wie in einem Wohnzimmer als in einer Kneipe. In einer dieser Bars bestellten wir toshikoshi soba – die traditionellen Jahreswechsel-Nudeln – mit Tempura. Die Stimmung war herzlich und vertraut. Als Mitternacht näher rückte, hoben alle Gäste die Gläser und wünschten sich freudig ein gutes neues Jahr. Keine Böller, keine Menschenmassen, keine Musik auf den Straßen, stattdessen eine intime Atmosphäre.

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Toshikoshi Soba wird in Japan traditionell an Silvester gegessen. Die langen Nudeln stehen für ein langes Leben und sollen Glück und Gesundheit bringen. © manbo-photo / iStock

Neujahr in Ōsaka

Mein drittes japanisches Neujahr verbrachte ich in Ōsaka, während meines Studiums an der Universität. Die Stadt ist bekannt für ihre herzliche Art, ihre offene Lebenskultur und ihren Sinn für Humor. Wer Tōkyō als geschäftig und effizient erlebt hat, spürt in Ōsaka schnell: Hier geht es um Lebensfreude, ums Genießen – kuidaore sagt man hier: „Iss dich bankrott“. Ōsaka ist mit knapp 2,7 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Japans. Als Naniwa war sie schon im 7. Jahrhundert ein wichtiges Handelszentrum. Heute ist sie das wirtschaftliche Herz Westjapans, aber auch ein Zentrum für Street Food, Comedy (man denke an manzai) und warmherzige Direktheit.

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Gemeinsam mit anderen Austauschstudierenden verbrachten wir den Silvesterabend auf der Dachterrasse. Jeder brachte etwas mit: selbstgemachtes Sushi, Supermarkt-Snacks, Getränke aus dem konbini-Store. Vor uns glitzerte das Lichtermeer des Viertels Umeda, und unter uns floss ruhig der Yodogawa, der größte Fluss der Stadt. Vor Mitternacht zog es uns dann doch hinaus. Ōsakas Nachtleben ist vielfältig, von winzigen Izakaya bis zu internationalen Bars, und so landeten wir am Ende in einem Irish Pub mit Livemusik. Eine japanische Band spielte englische bekannte Lieder wie „Auld Lang Syne“, das Guinness floss (oder snakebite – ein Drink aus gleichen Teilen Guinness und Apfelwein) und der Jahreswechsel wurde ausgelassen betanzt. Nicht ganz so traditionell, aber ganz Ōsaka: herzlich, chaotisch, lebendig.

Der Yodogawa-Fluss teilt Ōsaka bei Nacht, während im Hintergrund die funkelnde Skyline des Geschäftsviertels Umeda emporragt. © JaysonPhotography / iStock

Am Neujahrstag folgte das, was in ganz Japan zum Pflichtprogramm gehört: hatsumōde, der erste Schreinbesuch des Jahres. In Ōsaka ist dafür vor allem der Sumiyoshi-Taisha-Schrein bekannt, einer der ältesten des Landes. Schon am frühen Morgen strömen hier Menschenmengen durch die hölzernen torii, um für Glück und Gesundheit im neuen Jahr zu beten. Zwischen duftenden Imbissständen und Verkaufsständen zieht man sein persönliches omikuji-Wahrsagelos für das kommende Jahr und hofft auf eine gute Vorhersage.


Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST Oktober 2025-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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