Kamaishi – Höhen und Tiefen einer Tōhoku-Kleinstadt

Alena Eckelmann
Alena Eckelmann

Die Kleinstadt Kamaishi in der Präfektur Iwate war stark von der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 betroffen. Doch die Bewohner arbeiteten hart für den Wiederaufbau und die Förderung des Tourismus einer Region, in der sich eine wunderschöne Natur erleben und tolle Outdoor-Aktivitäten durchführen lassen.

Blick über die Sanriku-Küste
Blick über die Sanriku-Küste von der Hakozaki-Halbinsel. Foto: Alena Eckelmann

Die Geschichte von Kamaishi, einer kleinen Stadt an der Sanriku-Küste in Tōhoku im Nordosten Japans, erzählt von Zerstörung durch Naturgewalten und dem Mut der Einwohner, ihre Heimat immer wieder aufzubauen. Es geht auch darum, die ländliche Gegend wirtschaftlich zu beleben und dabei das Kulturerbe und den Stolz der Gemeinde auf ihre Traditionen zu bewahren. In den letzten Jahren haben eine Stadt-Land-Migration und die Förderung des nachhaltigen Tourismus neue Leute und neuen Schwung in die von der Dreifachkatastrophe vom März 2011 starkbetroffene Gegend gebracht. 

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Fluch und Segen der Küste

Die Sanriku-Küste ist eine sogenannte Ria-Küste. Ria sind tief in das Land reichende tiefe Meeresbuchten und waren einst Flussmündungen, die schmale und tiefe Täler in die steil aufsteigenden Berge nahe der Küste geschnitten haben. Bei ruhigem Wetter bieten die zerklüfteten Meeresbuchten malerische Ausblicke auf den Pazifischen Ozean. So wurde die Sanriku-Küste in den letzten Jahren als attraktive Region für den Wander-Tourismus entdeckt.

Der Michinoku Shiokaze-Weg, ein 1.000 km langer Fernwanderweg entlang der Küste, führt durch das Städtchen Kamaishi in der Präfektur Iwate. Auch Wassersport und Camping entlang der Küste rücken mehr und mehr in den touristischen Blickpunkt der Region.  

Eine Bucht mit kleinem Fischerhafen
Eine Bucht mit kleinem Fischerhafen in der Nähe der Hakozaki-Halbinsel. Foto: Alena Eckelmann.

Der Traum vom Wirtschaftsstandort

Im Gebiet von Kamaishi gibt es vier dieser Meeresbuchten: die Bucht von Ōtsuchi, von Ryōishi, von Kamaishi und von Tōni. Die Buchten wurden nach den dortigen Dörfern benannt, die in der Meiji-Zeit (1868-1912) eingemeindet und im Jahr 1937 zur kreisfreien Stadt zusammengelegt wurden. Der Kern der heutigen Kleinstadt von 33.000 Einwohnern (Stand 2021) liegt an der Kamaishi-Bucht.

In den 70er Jahren waren es noch 100.000 Einwohner, die zum großen Teil in der Stahlindustrie beschäftigt waren. Die natürlichen Gegebenheiten der Meeresbuchten schienen sich als geeigneter Industriestandort anzubieten. Das Unternehmen Nippon Stahl ließ sich in Kamaishi nieder und errichtete zwei Hochöfen, was Kamaishi als Geburtsort der japanischen Stahlindustrie bekannt werden ließ. Um diesen Standort zu schützen, wurde der weltweit tiefste Deich, der auch als Tsunami-Wellenbrecher dient, am Eingang der Kamaishi-Bucht errichtet. Der Deich reicht 63 Meter in die Tiefe, erhebt sich 6 Meter über den Wasserspiegel und sollte ebenfalls die Voraussetzung für einen internationalen Tiefsee-Containerhafen schaffen.

Der Traum vom Wirtschaftsparadies erfüllte sich nur teilweise. Nippon Stahl verlegte schließlich seinen Standort und weitere Investoren siedelten sich nicht an. Zumindest seit den letzten Jahren laufen Hochsee-Frachter den örtlichen Hafen an und die Anzahl der internationalen Containerschiffe, die hier docken, scheint anzusteigen, was der Region wieder Hoffnung auf einen Aufschwung gibt.

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Die meisten Gebäude entlang der Küste sind neu. Sie wurden nach der Zerstörung durch den Tsunami im Jahr 2011 errichtet. An vielen Orten befindet sich eine Gedenktafel, die die Höhe des Wasserstandes am 11. März 2011 anzeigt. Hier sieht man diese Gedenktafel in blauer Farbe zwischen dem zweiten und dritten Stock des Gebäudes. Foto: Alena Eckelmann

Wiederholte Zerstörung

Ausgelöst von einem Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala, rollte am 11. März 2011 eine gewaltige, bis zu 15 Meter hohe Tsunami-Welle auf die Sanriku-Küste zu und zerstörte alles in ihrer Bahn. Auch Kamaishi wurde von der Welle nicht verschont: 3.188 Häuser wurden zerstört und 1.039 Einwohner verloren ihr Leben. Der mächtige Deich konnte die Stadt zwar nicht von der Überflutung bewahren, aber eine Untersuchung hat ergeben, dass die Ankunftszeit des Tsunamis aufgrund der Mauer um etwa sechs Minuten verzögert und die Höhe der Welle je nach Ort um 40 bis 50 Prozent reduziert wurde. Es wird angenommen, dass dank des Deiches weitere Todesfälle und Zerstörung von Gebäuden verhindert wurden. 

Diese Katastrophe war jedoch nicht das erste Mal, dass Kamaishi eine Zerstörung solchen Ausmaßes erfuhr. Menschen siedelten hier entlang der Küste schon seit langem, obwohl die Gegend immer wieder durch Tsunamis zerstört wurde. Es gibt ganze 34 Tsunami-Gedenksteine, die Zeugnis von diesen Katastrophen geben. In jüngster Geschichte wurde im Jahr 1896 eine solche verzeichnet, sowie in den Jahren 1933 und 1960, wenn auch in einem kleineren Ausmaß.

Alte und neue Einheimische

Es gibt jedoch Menschen, die Kamaishi ihre Heimat nennen und die nach jedem Unglück den Mut haben, weiter dort zu leben und ihr Zuhause wiederaufzubauen. So geschah es auch nach der jüngsten Katastrophe von 2011. Nicht nur das, die Kleinstadt hat sogar neue Einwohner bekommen: Einige Japaner, die in Kamaishi aufgewachsen sind, dann aber zum Studieren und Arbeiten in die Hauptstadt Tōkyō zogen, kehrten in ihre Heimat zurück. Außerdem hat ein Teil der freiwilligen Helfer, die bei den Aufräumarbeiten und beim Wiederaufbau mithalfen, hier ein neues Zuhause gefunden. Für sie war der Umzug eine Umkehr und Neubesinnung.

Der Trend der Zuzügler hält an: In den letzten Jahren siedelten sich noch weitere Japanerinnen und Japaner aus ganz unterschiedlichen Beweggründen in Kamaishi an. Sie sind Teil einer Stadt-Land-Migration, die sich seit 2011 in Japan zunehmend abzeichnet und in den letzten Jahren auch staatlich gefördert wird, um ländliche Regionen wiederzubeleben.

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Felsformationen an der Ria-Küste
Für Touristen sind die Felsformationen an der Ria-Küste ein idealer Hintergrund für Urlaubsfotos. Foto: Alena Eckelmann

Hoffnung auf Touristen

Die „neuen Einheimischen“ sind stolz darauf in Kamaishi eine Heimat gefunden zu haben, und sie wollen diesen Stolz auch in den Daheimgebliebenen wieder entfachen. Sie versuchen daher, die Verbundenheit innerhalb der örtlichen Gemeinschaft zu fördern und Besucher von nah und fern nach Kamaishi zu bringen. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2018 die Kamaishi DMC gegründet, eine Art Tourismusverband, der den Standort Kamaishi als attraktives Reiseziel sowohl für Japaner und als auch für Ausländer fördert.

Unter den verschiedenen Projekten, die bisher realisiert wurden, ist die Rehabilitierung des Nebama-Strandes, der durch den Tsunami von 2011 völlig zerstört wurde, und die Gestaltung des Strandes als Freizeitzentrum.  

Fischerhafen
Die Kayak-Ausflüge beginnen und enden am Fischerhafen. Foto: Alena Eckelmann

Urlaub an Meer und Küste

Ein dreiköpfiges Team leitet das Projekt. Frau Komatsuno kehrte nach dem Studium in Tōkyō in ihre alte Heimat zurück. Herr Mikami stammt ebenfalls aus Kamaishi, hat aber 18 Jahre in Tōkyō gearbeitet und ist erst vor acht Jahren in seine alte Heimat zurückgekehrt. Frau Satō kam nach Kamaishi, um bei dem Wiederaufbau zu helfen und hat sich dabei in die Region verliebt, bevor sie endgültig dorthin zog.

Die drei betreuen Ausflüge und Aktivitäten in ihrer Gegend, wie Wandern auf der Hakozaki-Halbinsel, Schnorcheln und Stand-Up Paddling am Strand, Kayaktouren rund um den kleinen Fischerhafen und eine Küstenrundfahrt in einem Fischerboot.  

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Sanriku-Küste
Die Sanriku-Küste wird mehr und mehr für den Tourismus erschlossen. Damit die einzigartige Küstenlandschaft geschützt wird, sollen touristische Unternehmungen auf nachhaltige Weise durchgeführt werden. Foto: Alena Eckelmann

Die Zukunft ist nachhaltig

Bereits seit der Gründung der Kamaishi DMC lag ein Schwerpunkt auf nachhaltigem Tourismus. Unter Anwendung der Nachhaltigkeitskriterien des Global Sustainable Tourism Council (GSTC)* hat die Kamaishi DMC einen Aktionsplan entwickelt und wurde von Green Destinations** als Reiseziel für nachhaltigen Tourismus zertifiziert. Schon vier Jahre in Folge wurde die Kamaishi DMC als eine der Top 100 Destinationen*** in der Welt für Nachhaltigen Tourismus ausgezeichnet. Somit ist Kamaishi eines der führenden japanischen Reiseziele für nachhaltigen Tourismus.

Hoffentlich wird es bald wieder möglich sein, als Tourist*in nach Japan zu reisen. Auf jeden Fall ist das Team der Kamaishi DMC auf internationale Besucher gut vorbereitet und heißt auch Besucher aus dem deutschsprachigen Raum herzlich willkommen!


*Der Global Sustainable Tourism Council (GSTC) ist eine gemeinnützige Organisation, die die grundlegenden Standards für eine nachhaltige Entwicklung im Reise- und Tourismussektor auf globaler Ebene festlegt und leitet. GSTC akkreditiert Organisationen, die Hotels, Reiseveranstalter und Reiseziele auf nachhaltigen Tourismus zertifizieren.

**Green Destinations ist eine vom Global Sustainable Tourism Council (GSTC) akkreditierte Nachhaltigkeits-Zertifizierung  im Tourismus-Sektor.

***Der Wettbewerb „Top 100” zeichnet jährlich Destinationen mit der besten “Good Sustainable Practice Story” auf der Internationalen Tourismus Börse (ITB) in Berlin aus.

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