Künstliche Intelligenz und große Gefühle: Issa-kun schreibt Haiku

JAPANDIGEST
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Das Forscherteam um Kawamura Hidenori entwickelt die AI-Anwendung Issa-kun, die Haiku-Gedichte schreibt. Issa-kun lernt Regeln zur Beurteilung von Situationen und eignet sich Vorwissen über klassische Haiku an. Wie unterscheiden sich von Menschen und von Maschinen verfasste Gedichte? Ein Interview.

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Gefühle ex machina: Haiku sind mehr als kurze Texte.

Woher kam Ihnen die Inspiration für die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz wie Issa-kun?

Ein Bekannter stellte die Frage, ob es AI möglich wäre, Haiku zu schrei­ben. Haiku sind nicht einfach nur kurze Texte, sie müssen Bilder und Gefühle ver­mitteln, müssen die Gedanken des Autors auch jemandem ohne Vorkenntnisse ver­ständlich machen. Ein gutes Haiku ver­steht die Werte der Menschen und trifft auf ihre Zustimmung. Alles Punkte, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht durch AI abgedeckt werden können. Das Pro­jekt ist also ein immenser Schritt für die AI-Forschung.

In Haiku werden immer Gefühle trans­portiert. Irgendwie fällt es schwer zu glauben, dass AI diese verstehen.

Prinzipiell ist es unmöglich, dass AI ein Haiku ohne Vorkenntnisse versteht. Erst wenn die Anwendung sich mit menschli­chen Gefühlen auseinandersetzt, kann sie beginnen, Haiku zu begreifen. Anders als bei Spielen wie Shōgi, die auf festgeleg­ten Regeln basieren, sind Haiku Produkte menschlicher Werte und können daher nicht gänzlich getrennt vom Menschen betrachtet werden. Anhand von Daten zur Beziehung zwischen Mensch und Haiku entwickelt Issa-kun sich weiter.

Warum haben Sie ausgerechnet Issa unter den Haiku-Dichtern ausgewählt?

Von Kobayashi Issa sind viele Werke erhalten, also haben wir viele Daten, mit denen wir arbeiten können. Außerdem behandeln Issas Gedichte Themen aus dem Leben des einfachen Volks und sind leicht verständlich, selbst für Grundschüler. Für die Forschung sind seine Texte außerdem gut geeignet, weil das Urheberrecht bereits erloschen ist.

kobayashi issa
Kobayashi Issa zählt als bedeutender Dichter zu den „Großen Vier“ der japanischen Haiku-Dichtkunst.

Wie unterscheiden sich von Menschen und von Maschinen verfasste Haiku?

Es ist nicht so, dass wir unter uns Ent­wicklern Haiku nicht schätzen würden. Literarisch betrachtet, können wir je­doch keine professionelle Einschätzung dazu abgeben. Ein Unterschied liegt in der Tatsache, dass die Lerndatei auf klas­sischen Werken von Issa und ähnlichen basiert und daher stark von zeitgemäßen Werken abweicht. Wir haben allerdings auch begonnen, moderne Werke in Is­sa-kuns Lerndatei einzuspeisen. Die da­raus entstandenen Gedichte wurden von einem zeitgenössischen Dichter selbst im Vergleich mit Issas Werken hoch bewertet.

Worin liegen die Schwierigkeiten, die Issa-kun beim Verfassen von Gedichten bewältigen muss?

AI imitiert lediglich den Menschen, indem sie, basierend auf den Wörtern von bestehenden Haiku, neue Wortkombinationen schafft. Ein Kriterium ist die voraussichtlich hohe Bewertung der Texte in Kombination mit Bildern. Wenn Menschen Haiku schreiben, ist der Prozess der Wertung und Evaluierung ein ganz anderer. Derzeit sind wir noch dabei, aus diesen neuen Wortkombinationen Haiku zu ermitteln. Bis diese wie von einem Menschen ausgewertet werden können, wird noch einige Forschung notwendig sein.

Wird diese Technologie in Zukunft auch eine andere Anwendung finden?

In Japan hat man bereits mit der Forschung begonnen, AI auch Romane schreiben zu lassen. Es gibt immerhin nur eine begrenzte Anzahl an Wörtern und es ist durchaus möglich, mit der jetzigen AI-Technologie diese Wörter gut miteinander zu kombinieren. Bis aus diesen Wörtern allerdings eine Geschichte entsteht, die die Vorstellungskraft der Menschen inspiriert, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Zunächst müssen wir herausfinden, wie die Menschen mit Haiku und Kunst allgemein interagieren.

Was genau ist die konkrete Aufgabe von Issa-kun in Zukunft?

Gedichte zu kreieren, die denen von Dichtern in nichts nachstehen, und die Leser von deren Qualität zu überzeugen. Was finden die Menschen schön, was wissen sie zu schätzen? Diese Werte soll Issa-kun anwenden können.


Dieses Interview wurde von Mai Schmidt für die Juli-Ausgabe des JAPANDIGEST geführt und von Sina Arauner ins Deutsche übersetzt und für die Veröffentlichung im Magazin und auf der Webseite angepasst. 

kawamura hidenori

Profil Kawamura Hidenori 

Geboren 1973 in Kushiro, Hokkaidō, machte Hidenori seinen Abschluss mit Doktortitel an der Hokkaidō Universität , wo er seit 2016 als Professor an tätig ist. Seit Juni 2017 ist er Vorsitzender von „Sapporo AI Lab“ zur Erforschung der industriellen Anwendung artifizieller Intelligenz (AI). Zudem veröffentlichte er zahlreiche Beiträge im Bereich der künstlichen Intelligenz.

 

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