Als die Liberaldemokratische Partei am 4. Oktober 2025 Takaichi Sanae zu ihrer Vorsitzenden wählte, war das Echo vorhersehbar: erste Frau an der LDP-Spitze, mögliche erste Premierministerin Japans. In westlichen Medien klang das nach einem Wendepunkt, nach einer späten Emanzipation eines Landes, das in Gleichstellungsrankings regelmäßig weit hinten liegt (aktuell Platz 118). In Japan selbst fiel die Reaktion verhaltener aus. Zu oft hatte die LDP Frauen in Ministerposten berufen, um Modernität zu demonstrieren, ohne die politische Kultur tatsächlich zu verändern. Auch Takaichi verweigert sich der einfachen Symbolik. In ihren ersten Auftritten nach der Wahl betonte sie Verantwortung und Pflicht statt Geschlechterfragen. Damit legte sie die Tonlage fest: keine Inszenierung, keine Geste der Befreiung. Ihr Weg an die Spitze ist keine Geschichte über Gleichstellung, sondern über Disziplin und harte Arbeit.
„Alle sollen wie Arbeitspferde schuften, auch ich werde den Begriff Work-Life-Balance verwerfen“, erklärte sie nach ihrer Wahl.

Der Weg nach oben
Takaichi wurde 1961 in der Präfektur Nara geboren. Ihr Vater arbeitete in der Autoindustrie, ihre Mutter bei der Polizei. Nach einem Wirtschaftsstudium an der Universität Kōbe verbrachte sie ein Jahr in den USA im Büro der Kongressabgeordneten Patricia Schroeder. Zurück in Japan, gewann sie 1993 erstmals einen Sitz im Unterhaus, wurde 1996 Mitglied der LDP und stieg seitdem intern auf. Ex-Premier Kishida berief sie 2022 zur Ministerin für besondere Aufgaben wie der „Cool-Japan-Strategie“ (internationale Kulturvermarktung), geistiges Eigentum, Wissenschaft & Technologie, Weltraum sowie „wirtschaftliche Sicherheit“. Sie gilt als detailversessen, sachlich, loyal. Eigenschaften, die in der von Hierarchien geprägten LDP zählen. Ihre politische Linie ist konservativ, ihre Sprache bürokratisch. In jungen Jahren war Takaichi dagegen alles andere als die strenge Bürokratin, als die sie heute gilt. Sie spielte Schlagzeug in einer Heavy-Metal-Band, tauchte, fuhr leidenschaftlich Auto. Ihr weißer Toyota Supra stand zeitweise schon in einem Museum in ihrer Heimat Nara. Der Weg von der Rockmusikerin zur Politikerin ist weit, aber erklärt, warum sie sich Disziplin erarbeitet hat, statt sie geerbt zu haben. In der Parteiwahl im Oktober 2025 gewann sie jedenfalls. In der ersten Runde erhielt sie 183 Stimmen (64 von Abgeordneten, 119 von Parteimitgliedern). In der Stichwahl setzte sie sich mit 185 Stimmen gegen Koizumi Shinjirō (156) durch, den charismatischen Liebling der Presse.
Die eiserne Linie
Politisch gehört Takaichi zum rechten Flügel der LDP. Sie fordert eine Revision von Artikel 9 der Verfassung, der Japans Streitkräfte bislang auf reine Selbstverteidigung beschränkt. Sie befürwortet höhere Verteidigungsausgaben, Investitionen in Satelliten-, Cyber- und Raketenprogramme, alles unter dem Schlagwort Sicherheit. Sie kritisiert die japanische Zentralbank für die Anhebung der Zinssätze und fährt eine härtere Linie gegenüber AusländerInnen. Auch in gesellschaftlichen Fragen vertritt sie klare, traditionelle Positionen. Sie lehnt die Einführung gleichgeschlechtlicher Ehen und die Nutzung getrennter Familiennamen für Ehepartner ab. Für sie beginnt gesellschaftliche Stabilität im privaten Raum, in der Familie. In Japan schreibt das Zivilgesetz bis heute vor, dass Ehepartner einen gemeinsamen Familiennamen führen müssen. Interessanterweise hat sie während ihrer eigenen Ehe (2004–2017) weiter ihren Geburtsnamen für politische Arbeit genutzt.
Diese Werte verbindet sie mit technologischem Fortschritt und nationalistischer Nüchternheit. Schutz durch Ordnung. Damit knüpft sie an die Linie des verstorbenen Ex-Premiers Abe Shinzō an, dessen Kurs sie fortsetzen will. Vergleiche werden auch zur ersten Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Margaret Thatcher, der „Eisernen Lady“, angeführt.
Die Frau, die kein Symbol sein will
Manch westliche Kommentatoren sehen ihren Aufstieg als Signal weiblicher Emanzipation. Doch Takaichi bricht keine Strukturen, stellt sich nicht gegen das System, sie bestätigt es, indem sie darin glänzt. Ihr Erfolg zeigt, dass die LDP durchaus Frauen in Führungspositionen duldet, solange diese die Spielregeln nicht verändern. In einer Partei, deren Machtbasis auf Hierarchie, Loyalität und Netzwerken älterer Männer beruht, ist das immer noch eine bemerkenswerte Leistung. Sie ist aber kein Gegenentwurf zur etablierten Machtstruktur, sondern deren konsequente Vollendung. Fleiß schlägt Charisma. Das kommt bei konservativen und moderaten Wählerinnen gut an, weil sie Takaichi als Beweis sehen, dass man es „auch als Frau schaffen kann“, ohne sich auf Feminismus in Form von Frauenquote oder Sonderregelungen zu berufen. Strukturelle Barrieren (z. B. patriarchale Netzwerke) sind weniger das Problem, sondern halt das gegebene Umfeld für alle. Probleme ergeben sich hier aus fehlendem Willen und fehlendem Beitrag zur Gesellschaft – Mann oder Frau.
Disziplin als gemeinsame Last
Takaichis Botschaft – „arbeiten, arbeiten, arbeiten“ – traf einen Nerv. Manche sahen darin Rückschritt, andere Aufrichtigkeit. Tatsächlich spiegelt sie die Realität vieler JapanerInnen: eine Gesellschaft, in der Leistung als moralischer Wert gilt. Es ist Ausdruck einer Arbeitskultur, die beide Geschlechter in die gleiche Logik zwingt: leisten, aushalten, funktionieren. Wenn sie die „Work-Life-Balance“ verwerfen will, dann nicht, weil sie Männern oder Frauen weniger Freizeit gönnt, sondern weil sie Arbeit als Kern sozialer Identität begreift. Der Druck, unermüdlich zu sein, ist in Japan seit Jahrzehnten männlich kodiert. Takaichi übernimmt ihn und macht ihn geschlechtsneutral. Damit steht sie für eine paradoxe Modernität: Frauen dürfen jetzt genauso überfordert sein wie Männer. Ihr Aufstieg verschiebt nicht die Werte, sondern die Verteilung der Last.
Die Unfreiheit der Ausnahme
Gerade weil sie als Frau an die Spitze gelangt ist, muss Takaichi das System stabilisieren, das sie möglich gemacht hat. Sie darf keine „Frau der Frauen“ sein, sondern Premier aller JapanerInnen. Jede Geste der Abweichung würde sie angreifbar machen. So wird sie zur Ausnahme, die die Regel bestätigt. Takaichi ist die Personifikation der Sicherheit, modern in Form, konservativ im Kern. Ob Takaichi tatsächlich Premierministerin wird, entscheidet das Parlament am 21. Oktober 2025.

Quellen (Auswahl)
TV Asahi News (4. 10. 2025): „高市氏 1回目 183票、決選 185票で 新総裁に“
Toyokeizai Online (10. 10. 2025): „高市早苗新総裁 馬車馬発言の真意“
Mainichi Shimbun (9. 10. 2025): 政策特集 「憲法改正と経済安全保障」
Canon Institute for Global Studies (CIGS) (16. 10. 2025): 「高市新総裁、君子豹変せよ」
LDP Mitgliederprofil auf jimin.jp (Offizielle Parteiwebseite)
The Diplomat (15. 10. 2025): “Takaichi Sanae and the Rise of Conservative Populism in Japan”
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