Heißer Politsommer 2022: Ein Attentat, eine Wahl und eine unerwartete Wendung

Matthias Reich
Matthias Reich

Am 10. Juli 2022 waren rund 105 Millionen Japaner dazu aufgerufen, in einem der 46.000 Wahllokale die Hälfte der Oberhausabgeordneten zu wählen. Der obligatorische Wahlkampf wurde zwei Tage vor dem Stichtag abrupt durch das tödliche Attentat auf Ex-Premierminister Abe Shinzō unterbrochen. Die Wahl stand somit unter einem besonderen Stern.

Japans Premierminister Kishida Fumio neben einer anderen Politikerin im japanischen Parlament
Premierminister Kishida Fumio bei einer Oberhaussitzung am 14. Juni 2022. © Rodrigo Reyes Marin/ZUMA Press Wire / Alamy Stock Photo

Nein, tödliche Attentate sind auch im ziemlich sicheren Japan kein Novum – erinnert sei da zum Beispiel an Itō Itchō, den Bürgermeister von Nagasaki, der 2007 vor seinem Wahlkampfbüro auf offener Straße erschossen wurde.  Dennoch war das, was sich gegen Mittag vor einem unbedeutenden Bahnhof in der Präfektur Nara am 8. Juli 2022 abspielte, ein Schock für die meisten Japaner. Abe Shinzō, am längsten amtierender und vor 2 Jahren zurückgetretener Premierminister, wurde hinterrücks während einer Wahlkampfrede erschossen. Der Täter ließ sich widerstandslos festnehmen – mit einem selbstgebauten Gewehr hatte er zwei Mal auf Abe geschossen. Es folgten mehrere Stunden bangen Wartens, bis die Uniklinik von Nara in einer Pressekonferenz bekannt gab, dass Abe seinen Verletzungen erlegen war.

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Unisono taten japanische Politiker das einzig Richtige: Sie verurteilten das Attentat auf das Schärfste, bezeichneten es als Attentat auf die Demokratie, stellten den Wahlkampf für ein paar Stunden ein, bevor sie zum Tagesgeschäft übergingen, um sicher zu gehen, dass die Oberhauswahlen wie geplant stattfinden. So geschah es dann auch, und die Wahlbeteiligung lag mit 52 % sogar 3 % höher als bei der letzten Wahl vor 4 Jahren.

Die Abe-Fraktion

Erwartungsgemäß siegten die Liberaldemokraten mit großem Vorsprung: 63 der 125 zu vergebenden Sitze fielen an sie, und nicht nur das: Die vier Parteien, die eine Verfassungsänderung zugunsten der Schaffung einer regulären Armee befürworten, haben nun die dafür nötige Zweidrittelmehrheit erreicht. Und ganz am Rande wurden mit 35 Kandidatinnen so viele Frauen wie noch nie ins japanische Parlament gewählt. Das ist im internationalen Vergleich noch immer sehr wenig, aber immerhin ein kleiner Fortschritt. Außer der leicht gestiegenen Wahlbeteiligung gibt es jedoch ansonsten kein Indiz dafür, dass das Attentat auf Abe einen Einfluss auf die Wahlen gehabt hätte.

Die Ermordung des Ex-Premierministers sorgte dennoch für Aufruhr. Zum einen bei den Liberaldemokraten, denn bei denen gibt es machtvolle Fraktionen, und die Abe-Fraktion war besonders bedeutend. Da nun der Fraktionsführer fehlt, kommt Bewegung in die Sache – neue Fraktionen bilden sich, und es besteht die Gefahr, dass infolge interner Machtkämpfe bedeutende Parteimitglieder aussteigen und eine neue Partei gründen, was die Liberaldemokraten auf Dauer schwächen könnte. Genau genommen ist dies die einzige Gefahr, die der Ewig-Regierenden Partei droht, denn die Opposition war bereits vor der Wahl schwach und zerstritten, und das hat sich mit der Oberhauswahl nicht geändert.

Die Moon-Sekte

Zum anderen werfen die Hintergründe des Attentats einen langen Schatten. Der Attentäter, ein hochintelligenter Ex-Marinesoldat, hegte Groll gegen Abe, weil dieser bei einer der Moon-Sekte nahestehenden Organisation eine Lobrede hielt. Die Moon-Sekte, auch als Vereinigungskirche bekannt, stammt aus Südkorea und hat in Japan eine besonders starke Mitgliederschaft – man geht von weit mehr als 100.000 Mitgliedern aus. Die Mutter des Attentäters war dieser Sekte beigetreten und verlor ihr gesamtes Hab und Gut, da die Sekte immer und immer wieder Geld von ihr forderte. Der ältere Bruder konnte deshalb nicht studieren und nahm sich das Leben. Auch der Attentäter musste notgedrungen der Armee beitreten.

Nach dem Attentat kam und kommt nun ans Licht, dass Abes Rede kein Einzelfall war. Zwar war Abe nie Mitglied, doch der Organisation scheinbar wohlgesonnen. Wie sich nun herausstellte, wurde die LDP massiv von der Sekte unterstützt – finanziell und durch Wahlkampf. Im streng laizistischen Japan mit seiner fast grenzenlosen Glaubensfreiheit löste die Angelegenheit einen Sturm der Entrüstung aus, denn die Sekte hat es ganz offensichtlich geschafft, die regierende Partei bis in die höchsten Ränge zu durchsetzen. Das ist seitens der Politiker, die darin verwickelt sind, rechtlich vielleicht nicht zu beanstanden, moralisch aber höchst verwerflich. Denn es ist kein Geheimnis, dass die Sekte vor allem von ihren japanischen Mitgliedern exorbitante Spenden verlangt und viele Existenzen daran zerbrochen sind. Die Aufarbeitung dieser Verquickung von Sekte und Politik wird noch etliche Zeit in Anspruch nehmen.

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