Susanoo: Ein stürmischer Gott zwischen Chaos und Heldentum

Yaren Gülsoy
Yaren Gülsoy

Susanoo, der widersprüchliche Sturm- und Meeresgott, ist eine der faszinierendsten Figuren der japanischen Mythologie. In vielen Überlieferungen tritt Susanoo als rebellische, oft zerstörerische Kraft auf, die für Verwüstung sorgt, aber ebenso Heldentaten verrichtet. Wer ist dieser ungestüme Gott und warum hat er eine solch zwiespältige Rolle?

Susanoo erlegt das Schlangenungeheuer Yamata no Orochi
Susanoo erlegt das Schlangenungeheuer Yamata no Orochi und rettet Kushinada-Hime. Holzschnitt von Toyohara Chikanobu, ca. 1870.

Susanoo, Amaterasu und Tsukuyomi werden als die drei erlauchten Kinder des Urgötterpaares Izanagi und Izanami geboren. In Folge eines Reinigungsrituals, das Izanagi nach seiner Reise in die Unterwelt vollführt, entstehen jene Götter aus verschiedenen Körperteilen: Amaterasu aus Izanagis linkem Auge, Tsukuyomi aus dem rechten und Susanoo aus der Nase. Diese Abstammung verweist auf die unterschiedliche Natur der Geschwister: Während Amaterasu als Göttin der Sonne und des Himmelslichts strahlt und Ordnung symbolisiert, stellt Susanoo das unbändige, wilde Gegenstück dar, das die Ruhe und das Gleichgewicht herausfordert. Susanoo wird die Herrschaft über das Meer und das Erdreich aufgetragen – eine Entscheidung, mit der er sich nicht zufriedengibt. Sein Widerstand führt dazu, dass er von seinem erzürnten Vater schließlich in die Unterwelt verbannt wird, ins sogenannte ne no kuni.

Susanoos Untaten und Vertreibung aus dem Himmel

Susanoos Geschichte ist geprägt von seinem Hang zu exzentrischem Verhalten und der Missachtung der göttlichen Ordnung. Nach seiner Verbannung begibt er sich ins Himmlische Gefilde zu Amaterasu, um sich angeblich zu verabschieden. Er schafft es zwar, das Vertrauen seiner misstrauischen Schwester zu gewinnen, begeht infolgedessen jedoch eine Reihe von Untaten, die sogenannten „Sünden des Himmels“. Er zerstört Reisfelder, verunreinigt die heiligen Hallen und kränkt Amaterasu schließlich derart, dass sie sich in eine Höhle zurückzieht und die Welt in Dunkelheit versinkt. Dieser Vorfall gipfelt in der Entscheidung der Götter, Susanoo zu bestrafen, indem sie ihm den Bart abschneiden und seine Haare sowie Nägel ausreißen lassen, bevor sie ihn aus dem Himmel verbannen. Erneut vertrieben, wird er auf die Erde geschickt, um dort Buße zu tun.

Buße und Heldentum im Reich der Menschen

Trotz seiner Verfehlungen beschreiben die Mythen auch Susanoos heldenhafte Seite. Nach seiner Verbannung auf die Erde trifft er in der Provinz Izumo (heutige Präfektur Shimane) auf ein trauerndes Paar, das ihm von der Bedrohung durch das achtköpfige Schlangenungeheuer Yamata no Orochi erzählt. Jedes Jahr fordert die Schlange eines ihrer Töchter als Opfer, und nun ist ihre jüngste Tochter, Kushinada-Hime, auserwählt. Susanoo beschließt, Yamata no Orochi zu töten, was ihm durch eine List gelingt: Er verwandelt die Tochter in einen Kamm und versteckt sie in seinem Haar. Anschließend bereitet er acht Gefäße mit Reiswein vor, um die eintreffende Schlange zu verleiten, sich zu betrinken. Als sein Plan aufgeht und die Schlange in einen tiefen Schlaf fällt, ergreift Susanoo die Gelegenheit und erlegt sie. In einem der Schwänze der Schlange entdeckt er das legendäre Schwert Kusanagi, welches er Amaterasu als Zeichen seiner Buße überreicht.

Holzschnitt von Utagawa Kuniteru (ca. 1850). Es zeigt Susanoo und Inada-hime.

Amaterasu verlässt die Höhle, in die sie geflüchtet war (Holzschnitt von Utagawa Kunisada, um 1856).Amaterasu: Die Sonnengöttin der japanischen MythologieDer japanische Shintō-Glaube verehrt unzählige Götter, bekannt als kami. Eine der bekanntesten unter ihnen ist Amaterasu Ōmikami, die „große...16.09.2024

Das Schwert gilt heute als eines der drei Throninsignien des Kaiserhauses, da Amaterasu es wiederum ihrem Enkel Ninigi, dem Vater des mythischen ersten Kaisers, übergibt. Nach seinem Sieg über Yamata no Orochi heiratet Susanoo Kushinada-hime. Aus dieser Verbindung geht unter anderem Ōkuninushi hervor, einer der prominentesten Gottheiten in den Überlieferungen der Izumo-Sagen, in denen auch Susanoo in seiner Vaterrolle auftritt. Ōkuninushi regiert selbst eine Zeit lang über das Erdreich, bis er die Herrschaft freiwillig dem himmlischen Enkel Ninigi übergibt. Zufrieden mit der friedlichen Herrschaftsübergabe, beschenkt Amaterasu Ōkuninushi mit dem Izumo-Schrein, welcher heute einer der ältesten und bedeutendsten Shintō-Schreine Japans ist.

Izumo-Schrein
Der Izumo-Schrein wurde der Legende nach an jenem Ort errichtet, an dem Susanoo sich gemeinsam mit Kushinada-hime zur Ruhe setzte. © Wikipedia / Saigen Jiro (CC BY 0)

Susanoos Erbe und Einfluss

Susanoos chaotische Natur ist in der japanischen Kultur tief verwurzelt. Nicht nur die Vorstellung eines zornigen Sturmgottes, sondern auch die Idee des Helden, der die Macht besitzt, das Böse zu besiegen, hat sich aus den Mythen um Susanoo entwickelt. Er repräsentiert die Dualität menschlicher und göttlicher Natur – ein Wesen, das sowohl destruktiv als auch schützend ist, und dessen impulsive Entscheidungen eine unausweichliche Veränderung mit sich bringen. Unter den vielen Schreinen, die Susanoo gewidmet sind, befinden sich auch die sogenannten Gion-Schreine, deren Kult Susanoo als oberste Gottheit und Beschützer vor Krankheiten verehrt. Ursprünglich wurde diese Verehrung der buddhistischen Gottheit Gozu Tennō zuteil, doch nach der Etablierung des Staats-Shintō in der Meiji-Zeit (1868-1912) und der Trennung des Shintoismus und Buddhismus, rückte Susanoo ins Zentrum des Kults. Das macht deutlich, dass seine Rolle in der shintoistischen Mythologie, trotz seiner Untaten und stürmischen Natur, nie bloß auf die eines einfachen Tricksters reduziert wurde, sondern schon immer als facettenreich und widersprüchlich interpretiert wurde.

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