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Die Überstunden-Flüchtlinge

Hannah Janz
Hannah Janz

Schnell nach Hause und Jogginghosen an? Nicht für diese Geschäftsleute! Kaum ermuntern viele große Firmen in Japan ihre Mitarbeiter, pünktlich nach Hause zu gehen, ist der Großstadtdschungel um eine Spezies reicher: Den Überstunden-Flüchtling (zangyō nanmin 残業難民).

Überstunden Japan
Nach Hause fahren? Lieber später!

Schnell nach Hause und Jogginghosen an? Nicht für diese Geschäftsleute! Kaum ermuntern viele große Firmen in Japan ihre Mitarbeiter, pünktlich nach Hause zu gehen, ist der Großstadtdschungel um eine Spezies reicher: Den Überstunden-Flüchtling (zangyō nanmin 残業難民). Diese Menschen haben Familien und ein schönes Zuhause – und trotzdem bevorzugen sie es, so lange wie möglich in der Firma zu bleiben.

Mittlerweile wird das Thema Work-Life-Balance in vielen großen japanischen Firmen umgesetzt. Ein Mittel ist der nō zangyō dei ノー残業デイ, der Tag ohne Überstunden. Mittwochs oder freitags sollen die Mitarbeiter um spätestens 20 Uhr, mancherorts bereits um 18 Uhr, die Firma verlassen. Denn auch in Japan ist mittlerweile angekommen: Zuviel Arbeit macht krank und unproduktiv.

Überstunden in Japan: Freiwillig oder aufgezwungen?!

Der Einfluss dieser Top-Down-Strategie auf die Arbeitsmoral der Angestellten ist bislang aber fragwürdig. Vielen Angestellten (sararīman サラリーマン) graut es davor, nach Hause zu gehen. Sie fühlen sich in der Firma mehr Zuhause als bei ihren Familien. Durch die neue Praxis fühlen sie sich ihrer Zeit in der Firma beraubt. Sie werden zu Überstunden-Flüchtlingen: Anstatt früher heimzufahren, sind sie noch in der Stadt unterwegs.

In Japan kann man auch außerhalb der eigenen Wohnung Privatsphäre mieten: vom Manga-Café über Karaoke-Zimmer bis zum Capsule Hotel. Wer in Japan eine Weile in einem Café sitzt, sieht Menschen, die Aquarellzeichnungen anfertigen, stundenlang lesen, aus Papier riesige Käfer basteln, ihre Hausaufgaben machen. Das Café wird zur Verlängerung des eigenen Wohnzimmers in den öffentlichen Raum.

Wie sich Japans Großstädte auf die “Überstunden-Flüchtlinge” einstellen

Die Überstunden-Flüchtlinge nutzen diese Infrastruktur – und tragen zu ihrem Wachstum bei. Mittlerweile gibt es einen ganzen Geschäftszweig, der sich an dieser Konsumentengruppe richtet (zangyō nanmin bijinesu 残業難民ビジネス). Viele von ihnen essen bei Yoshinoya zu Abend, eine Imbiss-Kette, die günstig Rindfleisch auf Reis serviert. Beliebt sind Manga Cafés (manga kissa 漫画喫茶), in denen es auch Duschen und Schlafliegen gibt. Und auch Starbucks bietet an den „Tagen ohne Überstunden“ Sonderangebote. Wenn die Überstunden durch Stunden in der Öffentlichkeiten substituiert werden, bleibt die Frage offen, ob sich langfristig ein Umdenken in der Arbeitskultur etablieren kann.

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