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„Labyrinth Tokio“: Gingko-Bäume und leuchtende Buddhas am Kōkoku-ji

JAPANDIGEST
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Axel Schwab weiht Sie in diesem Artikel in die Hintergründe zu seinem Reiseführer „Labyrinth Tokio“ ein, der auf Themenrouten nostalgische Orte favorisiert und das authentische Tōkyō abseits bekannter Touristenpfade zeigt.

Mausoleum Ruriden am Kōkoku-ji
Mausoleum Ruriden am Kōkoku-ji © Axel Schwab

2008 brachte ich erstmalig den Reiseführer „Labyrinth Tokio: 38 Touren in und um Japans Hauptstadt“ heraus, der mittlerweile in der 9. Auflage erschienen ist. Bei meinen jährlichen Japanreisen aktualisiere ich die bestehenden Touren und recherchiere neue Routen. Meine liebste Beschäftigung in Tōkyō ist es, durch die verschiedenen Stadtviertel zu streifen und dabei Neues zu entdecken. In letzter Zeit interessiere ich mich insbesondere für Gebäude aus der Shōwa-Zeit (1926-1989) und suche abseits der ausgetrampelten Touristenpfade. So entstand eine Sammlung von 30 weiteren Touren, die der Conbook-Verlag im April 2020 rechtzeitig zur geplanten Olympiade in Tōkyō unter dem Titel „Labyrinth Tokio: 30 Touren neue Touren in Japans Hauptstadt“ herausbrachte. In diesem Artikel möchte ich ein wenig Einblick in meine Vorort-Recherche geben und davon berichten, wie ich eher zufällig den Kōkoku-ji fand. Im Buch selbst sind die Informationen zu diesem Tempel in drei Sätzen zusammengefasst.

Überraschung im Regen

Ich war bereits etwas hinter meinem Zeitplan, als ich entschied, die Route zwischen dem Yayoi Kusama Museum und Bingoya, einem Laden für japanische Volkskunst, per pedes zu überprüfen. In einer ruhigen Seitenstraße erblickte ich den schmalen Weg zu einem alten Tempel und besuchte diesen kurz entschlossen. Eine Tafel verriet, dass hier die zwei größten und mit über 500 Jahren auch ältesten Ginkgobäume in Shinjuku stünden. Wegen der eingeschränkten Sicht durch einsetzenden Nieselregen war ich mir nicht ganz sicher, wo auf dem Tempelgelände die Bäume standen. In einem modern erscheinenden Seitengebäude beendete eine Putzfrau gerade ihre Arbeit, weshalb ich sie nach den Bäumen fragte. Erstaunt begutachtete auch sie das Schild, konnte mir meine Frage aber nicht beantworten.

Schmaler Weg zwischen Häuserfassaden zum Tempel Kōkoku-ji
Tempeleingang Kōkoku-ji © Axel Schwab

Inzwischen wurde der Regen stärker und ich wollte schon wieder meinen Weg fortsetzen, als sie mir ihre Hilfe anbot und zur Wohnung des Abts rannte. Nach einiger Zeit erschien an der Eingangstür eine Frau mit grauen Haaren – anscheinend die Frau des Abts – und bat mich mitzukommen. Sie nahm ihren Schirm und zeigte mir die beiden alten Ginkgobäume auf dem nahe gelegenen Friedhof. „Bitte passen Sie auf, der Weg ist sehr rutschig“, riet sie mir, bevor sie wieder ging und ich mich dankend verabschiedete.

Friedhof vor dem Tempel Kōkoku-ji, hohe buddhistische Grabsteine, grüne Bäume, nasser Asphalt
Friedhof vor dem Tempel Kōkoku-ji © Axel Schwab

Plötzliche Erleuchtung

Nachdem ich die beiden Bäume fotografiert hatte – in der einen Hand die Kamera und in der anderen Hand meinen Schirm – nickte ich der Putzfrau dankend beim Weggehen zu, als sie gerade ihren Staubsauger wegräumte. Sie fragte, ob ich mir nicht auch noch das Gebäude ansehen wollte, das sie gerade gesäubert hatte. Von außen erschien mir das moderne achteckige Gebäude aus Beton mit seiner automatischen Holztür nicht sonderlich anziehend, doch nach dem Betreten wurde ich im tatsächlichen Wortsinn erleuchtet.

Rechteckige buddhistische Halle am Tempel Kōkoku-ji, regennasser Asphalt
Halle Ruriden am Tempel Kōkoku-ji von außen © Axel Schwab

Die Wände im Innern waren mit unzähligen bunt beleuchteten kleinen Buddhas aus Glas gepflastert. Erst kürzlich hatte ich über dieses vor 10 Jahren eröffnete moderne Grabmal mit dem Namen Ruriden einen Bericht im Fernsehen gesehen. Dabei ging es um eine Frage, die auch in Deutschland viele Singles und kinderlose Ehepaare betrifft: Wer kümmert sich nach dem Tod um die Pflege der Grabstelle? In Japan ist der Platz knapp und teuer, weshalb hier traditionell nur Feuerbestattungen üblich sind und die menschlichen Überreste normalerweise in Familiengräbern beigesetzt werden. Familiengräber werden über viele Generationen vererbt und den Nachkommen kommt die Aufgabe zu, sich um die Pflege des Grabs zu kümmern.

Mausoleum mit LED-beleuchteten Buddhastatuen am Tempel Kōkoku-ji (Innenansicht)
Halle Ruriden am Tempel Kōkoku-ji von innen © Axel Schwab

Der Kunde ist Gott

Dass diese Art von Mausoleum gerade hier am 1630 gegründeten Tempel Kōkoku-ji entstand, wurde mir klarer, als ich bei genauerem Hinsehen zwei kleine Schilder mit dem Logo des japanischen Amateurradioklubs sah. Der Abt und womöglich seine Frau oder ein Nachkomme sind also Funkamateure; die große Antenne auf dem Wohnhaus des Abts hatte ich doch glatt übersehen. Ein technisch affiner Abt mit einem Verständnis für die Probleme der modernen Gesellschaft macht das, was im kundenorientierten Japan eben üblich ist: Er schafft eine Lösung dafür. Nicht umsonst heißt es in Japan nicht „Der Kunde ist König“, sondern „Der Kunde ist Gott“.

Vor dem Tempel Kōkoku-ji, lange gepflasterter Weg, überdachtes Holztor
Vor dem Tempel Kōkoku-ji © Axel Schwab

Und hier wird er im wahrsten Sinne des Wortes eine Art Gott – repräsentiert von einem kleinen Buddha, der von unten mit drei leistungsstarken Farb-LEDs beleuchtet wird. Derweil schlummern seine Überreste hinter der Wand in einer Urne, die entweder 4 oder 7 Zoll groß sein darf. Diese Größen sind in Japan seit vielen Jahren genormt und bei der Wahl von zwei kleinen Urnen können Ehepartner gemeinsam in einem Urnengrab bestattet werden. Angehörige erhalten eine Chipkarte und haben damit zu jeder Tag- und Nachtzeit Zugang zum Beinhaus; natürlich leuchtet der betreffende Buddha dann entsprechend auf. Freunde, Bekannte und jeder beliebige Besucher kann zu den üblichen Friedhofsbesuchszeiten von 9 bis 17 Uhr die Grabkammer auch ohne Zugangskarte betreten und den Namen des Verstorbenen über ein Touchdisplay eingeben. Insgesamt gibt es 2046 mit LEDs beleuchtete Buddhas, doch können sinnvoll wohl nur circa 1600 als Grabstätte genutzt werden.

Wie ich später erfahre, sind die Urnenplätze sehr begehrt und man muss auch kein Buddhist sein oder einer Religionsgemeinschaft angehören, um hier beerdigt zu werden. Wer sich also noch einen schönen Platz für seine letzte Reise aussuchen will, sollte sich besser beeilen – aktuell ist bereits die Hälfte belegt.

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Autor Axel Schwab, blaues Hemd, Lächeln

Zum Autor:

Axel Schwab arbeitete fünf Jahre als Ingenieur in Tōkyō. Heute lebt er in München und besucht jährlich Japan. 2008 brachte er erstmalig den Reiseführer „Labyrinth Tokio“ heraus, zu dem 2020 der zweite Band „Labyrinth Tokio: 30 neue Touren“ erschienen ist. Dieses Buch wurde 2021 in der Kategorie „KulturEN“ mit dem ITB BuchAward ausgezeichnet.

www.axelschwab.de

Reiseführer "Labyrinth Tokio" (Vorderseite)
Reiseführer "Labyrinth Tokio". Erschienen im Conbook-Verlag und weltweit erhältlich im Buch- und Onlinehandel. ISBN-13: 978-3958893313

Zum Buch: „Labyrinth Tokio: 30 neue Touren in Japans Hauptstadt“

Viele Stadtteile Tōkyōs locken mit verwurzelten Geschäften, unscheinbaren Restaurants mit hervorragender Küche, versteckten Tempelanlagen und Architekturperlen aus der Shōwa-Zeit. Tauchen Sie ein ins heiße Wasser der wenigen noch verbliebenen Nachbarschaftsbäder, entdecken Sie Streetfood der Extraklasse, und lassen Sie sich von Orten der Ruhe und Einkehr verzaubern. Finden Sie mit „Labyrinth Tokio“  auf 30 Spaziergängen nostalgische Orte, quirlige Gassen und das authentische Tokio abseits bekannter Touristenpfade.

Der Reiseführer enthält 30 detailliert beschriebene Spaziergänge in und um Tōkyō, Empfehlungen für Cafés und Restaurants zum Einkehren und 31 Karten für die perfekte Orientierung im Straßenlabyrinth. Über 300 Fotos der beschriebenen Orte geben bereits beim Lesen einen guten Überblick und unzählige Insidertipps richten sich sowohl an Tōkyō-Neulinge als auch an Leser, die schon länger in Japan leben.

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