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Kawakami Miekos „Heaven“ – Ein schockierender Spiegel der Gesellschaft

Constanze Thede
Constanze Thede

Kawakamis aktueller Roman "Heaven" widmet sich schonungslos dem Thema Mobbing in der Schule und lässt den Leser das Leid der Protagonisten hautnah miterleben. Dabei stößt sie gleichzeitig philosophische Fragen an und hält der Gesellschaft einen grausamen Spiegel vor.

Ausschnitt aus dem Titelbild des Romans "Heaven" von Kawakami Mieko: Zwei Teenager in Schuluniform schauen mit trübem Blick in die Kamera
Kawakami Miekos neuester Roman "Heaven" zeigt, wie grausam der Schulalltag sein kann. © DuMont Buchverlag 2021

Die Autorin Kawakami Mieko scheut sich nicht vor kontroversen Themen, die sie in Geschichten verpackt, die bisweilen eine verstörende Dynamik annehmen. „Heaven“ ist bereits ihr zweiter, auf Deutsch erschienener Roman, der zwar weniger Seiten als ihr Vorgängerwerk „Brüste und Eier“ (Lesen Sie hier eine Rezension des Buches) aufweist, diesem aber in seiner thematischen Tiefe in nichts nachsteht. Während bei „Brüste und Eier“ der Kinderwunsch einer alleinstehenden Frau und all die gesellschaftlichen Widerstände, die dieser mitbringt, im Fokus standen, widmet sich „Heaven“ einer ganz anderen Problematik: Mobbing in der Schule.

Porträtfoto Autorin Kawakami Mieko
Kawakami Mieko

Zwei Außenseiter finden zusammen

Der Protagonist und Ich-Erzähler in Kawakamis aktuellem Roman ist ein 14-jähriger Junge, der die Mittelschule besucht, allerdings bis zum Ende der Erzählung namenlos bleibt. Wir erfahren nur den Namen seiner Klassenkameradin Kojima, die, ebenso wie er, schlimmen Mobbingattacken zum Opfer fällt. Eines Tages erhält der Ich-Erzähler einen Brief von Kojima mit den Worten „Wir gehören zur selben Sorte“. Was mit einem regelmäßigen Briefwechsel beginnt, entwickelt sich langsam zu einer echten Freundschaft. Zunächst scheint es, als wollten die beiden sich eine heile Welt außerhalb der Schule schaffen, in der das Mobbing nicht erwähnt wird und sie sich endlich einmal fallenlassen können. In der Schule wiederum müssen sie ihre Freundschaft verbergen, da sonst noch schlimmere Mobbingattacken folgen könnten. Irgendwann allerdings verzahnen sich diese beiden Welten miteinander und es gibt kein Entkommen mehr vor ihren Peinigern…

Mobbing als zynisches Psychospiel

Wer sich schon immer gefragt hat, was genau Mobbing eigentlich ist und was der Unterschied zu vermeintlich „harmlosen Hänseleien“ zwischen Kindern ist, wird nach der Lektüre dieses Romans eine klare Antwort auf diese Fragen gefunden haben. Kawakami zeichnet sehr deutlich die psychologische Dynamik des Mobbings nach und geht dabei auch auf Begriffsproblematiken wie „Täter“ und „Opfer“ ein. Sowohl der namenlose Ich-Erzähler als auch Kojima befinden sich aufgrund eines Makels in einer schwachen Position und scheinen so als „Opfer“ prädestiniert zu sein. Der Ich-Erzähler leidet darunter, dass er auf einem Auge schielt und wird von den anderen „Schielauge“ genannt. Kojima wiederum trägt ärmliche Kleidung und wäscht sich nicht ausreichend, weshalb ihr ein penetranter Geruch anhaftet, der ihren Klassenkameraden ein Dorn im Auge ist.

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Dies scheint aber nicht der eigentliche Grund für das Mobbing zu sein. Der Ich-Erzähler selbst macht sich über sein Schielen viele Gedanken und es drückt auf sein Selbstvertrauen. Als er jedoch Momose, einen seiner Peiniger, eines Tages konfrontiert, behauptet dieser, das Schielen sei ihm gleichgültig und das Mobbing hätte „keinen tieferen Sinn“, es ergebe sich lediglich aus der „Lust, jemanden zu verprügeln oder […] zusammenzutreten“ und die Opfer würden zufällig ausgewählt (S. 132). Interessanterweise ist Momose selbst nie direkt in das Mobbing involviert, sondern schaut meist zu, greift aber auch nicht ein. Erschreckend ist hier die fehlende Empathie und die Abgeklärtheit, die aus seinen Sätzen spricht. Es ist fraglich, ob jemand im realen Leben auch so dezidiert über die Problematik sprechen könnte, doch ist es zweifellos ein ausdrucksstarkes Mittel, um dem Leser Einblick in die Psyche der Täter bzw. Mitläufer zu geben.

Auch Täter sind Opfer

Abgesehen von der Perspektive der Drangsalierer bekommt der Leser durch die Ich-Erzählung natürlich einen noch direkteren Einblick in die Gefühle und Ansichten des Ich-Erzählers und dessen Freundin Kojima, die sich ihrerseits einige philosophische Gedanken zum Mobbing macht. Obwohl sie und der Ich-Erzähler sich scheinbar in einer ausweglosen Situation befinden, da sie in der Schule täglich gemobbt und von den Tätern unter Druck gesetzt werden, dies vor den Lehrern geheimzuhalten, ist Kojima der Meinung, die Täter seien „gleichzeitig Opfer von etwas Größerem“ (S. 82) und es sei gut, dass sie und der Junge sich dem Mobbing ohne Gegenwehr hingäben.

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Kojima nimmt eine Art trotzige Protesthaltung ein, indem sie die Quälereien erträgt ohne sich je den Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu fügen. Sich beispielsweise häufiger zu waschen, hieße für sie, sich anzupassen und ist daher keine Option, zumal sie ihr Äußeres aus einem bestimmten Grund vernachlässigt. Der Ich-Erzähler dagegen leidet sehr unter seinem Schielen – im Gegensatz zu Kojima hat er sich nicht bewusst für diesen Makel entschieden. Dieser entscheidende Unterschied zwischen den beiden Hauptfiguren lässt in ihrer Freundschaft bald erste Risse erscheinen und wirft die Frage auf, wie weit man mit seinem Protest gehen sollte, wenn man sich selbst damit schadet.

Eine Botschaft, die der Roman vermittelt, ist sicher, dass jeder Mensch seine ganz individuelle Sichtweise hat und die Welt zu komplex ist, um sie in simple Kategorien wie „Opfer“ und „Täter“ sowie „richtig“ oder „falsch“ einzuteilen. So flicht Kawakami hier ein philosophisches Gedankenspiel, das Raum für eigene Interpretationen lässt.

Schonungslose Mobbingszenen

Die Mobbingszenen selbst aber sind in ihrer Darstellung schonungslos und durch die Ich-Perspektive erlebt man sie so hautnah mit, dass man das Buch zuweilen am liebsten zuschlagen möchte. Kawakami macht deutlich, wie brutal Mobbing sein kann und dass es mit extremem körperlichen und psychischen Leid einhergehen kann. So kann man das Buch entweder als grausamen Spiegel der Gesellschaft sehen oder als kraftvolles, weil schockierendes Plädoyer gegen Mobbing.

„Heaven“ lässt den Leser in jedem Fall bis zur letzten Seite mit dem Ich-Erzähler mitfiebern und am Ende sogar einen Hoffnungsschimmer aufglimmen. Die Lektüre ist allen ans Herz zu legen, die sich eingehender mit Schikane in der Schule beschäftigen wollen oder sich für japanische Gesellschaftsthemen interessieren. Allerdings kommen solche Schulszenen, wie sie im Roman geschildert werden, bedauerlicherweise beinahe überall auf der Welt vor. Daher muss man sich nicht für Japan begeistern, um aus diesem Buch etwas mitzunehmen.


Romancover "Heaven" von Kawakami Mieko: Zwei japanische Teenager in Schuluniform schauen mit leerem Blick in die Kamera
© DuMont Buchverlag 2021

Kawakami Mieko: Heaven

Roman

Aus dem Japanischen von Katja Busson

190 Seiten

Erschienen am: 17. September 2021

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