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Ijime und ijiri: Wo zieht Japan die Grenze?

Matthias Reich
Matthias Reich

Mobbing und Neckereien unter Schülern sind kein ausschließlich japanisches Problem, sondern weltweit verbreitet. Nicht normal ist jedoch, dass sich alljährlich mehrere Kinder deshalb das Leben nehmen. Früherkennung ist ein wichtiges Mittel der Hilfeleistung – doch wo zieht man die Grenze?

mädchen verdeckt das Gesicht mit den Händen

Was geht wohl in einem Kind vor, das jeden Tag in der Schule ein mit dickem Filzstift geschriebenes „Stirb!“ auf seinem Tisch im Klassenzimmer vorfindet? Der japanische Klassiker Shine! („Stirb!“ oder übersetzen wir es so, wie es von der Nuance her gemeint ist: „Verrecke!“) ist ein im Klassenzimmer und auf dem Schulhof sehr häufig zu hörendes Wort, und das bereits in der Grundschule. Eigentlich könnte man das gelassen sehen und als Slang abwerten, wenn es nicht über 300 Schüler pro Jahr wörtlich nehmen würden; denn so viele Kinder begehen alljährlich Selbstmord, die meisten davon wegen anhaltender Schikane. Das sind über 300 Fälle zu viel und obwohl über das Thema seit Jahrzehnten heftig debattiert wird, will die Zahl, trotz sinkender Schülerzahlen wohlgemerkt, nicht abnehmen.

ijime JapanMobbing in Japans Schulen – Wenn der Druck zu groß wirdMobbing ist in Japan vor allem unter Schulkindern ein Problem. Unter Umständen treibt das sogenannte ijime (いじめ) die Opfer in den Selbstmord...18.12.2016

Der Unterschied zwischen ijime und ijiri

Früherkennung ist also gefragt, und das ist gerade in Japan ganz offensichtlich ein Riesenproblem, denn

  1. ist die Klassenstärke mit bis zu 40 Schülern sehr groß,
  2. sind noch immer viele Lehrer nicht sensibilisiert für das Thema und
  3. spielt Mobbing sich vermehrt, und das gilt nicht nur für Japan, im virtuellen Raum ab.

Nun sind Neckereien und mehr oder weniger grobe Späße zwischen Kindern etwas völlig Normales – ijiri (was etwa „an etwas herumspielen“ bedeutet) komplett zu verbieten ist quasi unmöglich und der Erziehung auch nicht zuträglich. In begrenztem Maße brauchen Kinder das, um soziale Verhaltensweisen zu lernen – und miteinander Spaß zu haben. Um diese Späße von ijime (Mobbing) abzugrenzen, geistern mehrere Definitionen durch die Medien und Lehrerzimmer:

  1. Ijiri findet ein Mal statt, ijime permanent.
  2. Über ijiri kann der Betroffene lachen.
  3. Wenn eine Einzelperson von einer Grupp drangsaliert wird, ist es grundsätzlich ijime.
  4. Sind körperliche Gewalt oder kollektive Ausgrenzung im Spiel, ist es grundsätzlich ijime.
  5. Ist eine der beiden Seiten „KY“, handelt es sich um ijime.
schüler wird von mitschülerinnen "versohlt"

Es gibt sicherlich noch mehr Definitionen. Die fünfte ist dabei im japanischen Kontext von besonderem Interesse. „KY“ (als englische Buchstaben gesprochen) ist eine moderne Abkürzung für kūki yomenai, was wortwörtlich übersetzt „die Luft nicht lesen können“ bedeutet. Man ahnt die eigentliche Bedeutung: Das richtige Gespür dafür haben, was angemessen ist. Wenn also die neckende Seite kein Gespür dafür hat, wo die Grenze liegt, ist es ijime. Hat der „Geneckte“ kein Gespür dafür, dass es sich nur um eine Albernheit handelt, ist es ijime. Das leuchtet ein. Beide Seiten müssen sich bewusst sein, wo die Grenzen liegen.

Fehlende Sensibilisierung der Lehrkräfte

Jedoch sind sehr viele Lehrer in Japan, das muss man leider deutlich sagen, zu „KY“ um zu verstehen, ob die Schüler die Grenzen kennen. Viele wollen es auch nicht verstehen, denn sie blicken da natürlich auf die eigene Jugend zurück: Ijime und böse Streiche hat es auch in ihrer Jugend gegeben und so sie nicht selbst Opfer ernsthafter Schikane wurden, fehlt das Verständnis für die Notwendigkeit einzuschreiten. Außerdem herrscht bei vielen Lehrern die Auffassung, dass die Bildung heutzutage sowieso zu verweichlicht ist – schließlich durften ja früher Lehrer selbst Hand anlegen, was heute natürlich verboten ist.

Die Unterscheidung der beiden Phänomene gestaltet sich von daher schwer, denn wo genau nun die Grenze zu ziehen ist, liegt sehr im Auge des Betrachters. Auch in Japan gibt es genügend Helikoptereltern, die beim kleinsten Streich zwischen den Kindern Zeter und Mordio schreien. Dem gegenüber steht so mancher Lehrer, der von Kinderpsyche und Mobbing keinerlei Schimmer hat: So kommentierte zum Beispiel ein Lehrer an der Schule meiner Kinder die Abwesenheit eines Schülers, verursacht durch Hänseleien seiner Mitschüler, vor der versammelten Klasse mit der trockenen Bemerkung: „Ich kann den jedenfalls auch nicht leiden.“ So lange es solche „Lehrer“ gibt, helfen leider die schönsten Definitionen nichts.

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