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Japanisches Webdesign: zwischen organisiertem Chaos und Firmenhierarchien

Nils Gärtner
Nils Gärtner

Japanische Webseiten sind für Laien sowie auch für Japanischlernende eine besondere Herausforderung. Doch warum ist das japanische Internet so unzugänglich und unattraktiv für Ausländer? Und vor allem, wieso wird man bei dessen Besuch unweigerlich an die 90er Jahre erinnert?

Coding

Wer schon einmal eine japanische Website besucht hat, der kennt sicher die leichte Unruhe die schon vor der Adresseingabe in das URL-Feld eines Browsers aufkommt. Man verlässt bekannte Gewässer und begibt sich in die stürmisch hohe See fremder Kanji, bunter Buttons und unzähliger Spalten Volltext. Das leicht beklemmende Gefühl, verursacht durch den ungehemmten Informationsfluss der Seite, welcher ungefiltert auf den Leser niederströmt, vermag es manchmal sogar fast eine Art klaustrophoben Anfall auslösen.

Diese oder wenigstens ähnliche Erfahrungen macht wohl jeder Japaninteressierte früher oder später auf seiner unbesonnenen Suche nach speziellen Themen. Und tatsächlich wirken die meisten japanischen Websites viel zu überladen und unübersichtlich für Besucher, die nur Erfahrungen mit „westlichem“ Webseitendesign gemacht haben: Auf den ersten und auch zweiten Blick ist die Werbung kaum vom richtigen Inhalt der Seitenbetreiber zu unterscheiden. Die gleichaussehenden Buttons und Tabs, sowie die bunten, überwiegend aus Text bestehenden und direkt aneinandergereihten Banner erleichtern die Navigation der Seiten dabei nicht besonders.

Einfluss der japanischen Schrift auf das Webseitendesign

Zu diesen Schwierigkeiten gesellt sich noch die Fremdartigkeit der japanischen Schriftzeichen, gegenüber dem lateinischen Alphabet. Sind heutige Websites, welche das letztere Schriftsystem benutzen, häufig minimalistisch aufgebaut und versuchen so einen ästhetischen Aspekt mit intuitiver Benutzung zu kombinieren, wird man auf japanischen Seiten gleich mehrfach überfordert: Es gibt so gut wie keine freien Flächen (White-Spaces / negative Räume) und die Mauer aus schwer überfliegbarem Text verhindert ein zu vorschnelles Weiterklicken auf die gesuchte, untergeordnete Seite.

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syosetu.com – Laut der Webpage-Analyseseite similarweb.com ist Syosetu.com auf dem 21sten Platz der am meistbesuchten Internetseiten Japans.

Das Informationsangebot erscheint tatsächlich derart enorm, dass man sich erst einmal etwas Zeit nehmen muss, alle Inhalte der Seite zu sichten, um schließlich zum gesuchten Ziel zu gelangen. Ferner ist so gut wie jeder Text auf den Hauptseiten blau gefärbt, um Hyperlinks zu markieren, und größere Bilder oder Grafiken werden nur spärlich eingesetzt. Betrachtet man die eng gedrängten bunten und blinkenden Seitenelemente, kommt es einem beinahe vor als wäre man inmitten von Shibuyas Einkaufsstraßen unterwegs, mit ihren riesigen, auffällig beleuchteten LED-Werbetafeln und -bannern.

Auch die Schriftgrößen der Pages machen vielen Ausländern zu schaffen. Während kleinere Schrift zwar auch im Deutschen leicht unangenehm zu lesen ist, wird dieser Makel auf japanischen Seiten um ein vielfaches offensichtlicher. Aufgrund der logographischen Basis der japanischen Sprache, können Informationen, für welche man im lateinischen Schriftsystem u.a. mehrere Wörter benötigt, in nur einem oder wenigen Kanji ausgedrückt werden. Daher ist es für Nichtmuttersprachler umso wichtiger, die Teils zehr intrikaten und sich oft ähnelnden Schriftzeichen vernünftig lesen zu können. Hinzu kommt die eben beschriebene höhere Informationsdichte pro verfügbarem Platz, japanischer Webpages.

Durch die bereits dicht gepackte Natur der Seiten, durch welche man versucht so viele Informationen wie nur möglich auf kleinstem Raum darzustellen, ist es also keine Überraschung, dass auch die Schriftgrößen oft eher im mikroskopischen Spektrum angesiedelt sind. Auf diese Weise werden viele Informationen für Nicht-Japaner beinahe unlesbar und bedürfen einer Vergrößerungsfunktion, um eindeutig lesbar gemacht werden. Viele Webpages bieten mittlerweile auch ein helfendes Schriftgrößensetting an, um diese Problematik zu adressieren.

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yomiuri.co.jp – Der Webauftritt der Auflagenstärksten Zeitung Japans.
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the-japan-news.com – Die englischsprachige Online-Ausgabe der Yomiuri Shimbun.

Ein weiterer Negativpunkt in der Zugänglichkeit japanischer Websites sind die kaum kantengeglätteten Fonts (Zeichensatz). Diese lassen das Layout und Design der Seiten erscheinen, als seinen Sie einer aus den späten 90er Jahren kommenden Zeitmaschine entstiegen. Zu dem veraltet wirkenden Aussehen der Seiten, gesellt sich noch die häufig anzutreffende Einbettung von Flashinhalten. Das vom Hersteller bereits lang angekündigte Unterstützungsende der Technologie ist für 2020 angesetzt.

Auch gibt es keine wirkliche Vielfalt an verschiedenen dynamischen Schriftsätzen, sodass viele der Seiten auf ein und denselben Font zurückgreifen. Dies steigert unweigerlich die monotone Erscheinung vieler Webpages. Ein Grund hierfür kann in der Umständlichkeit gesehen werden, neue Fonts für das japanische Schriftsystem zu erstellen. Hiragana und Katakana besitzen zwar jeweils nur 46 Zeichen und bieten so eine überschaubare Anzahl neu zu kreierender Charaktere, allerdings bestehen die meisten japanischen Webpages etwa zur Hälfte aus Kanji – und davon gibt es bekanntermaßen so viele wie Sand am Meer. Um eine Einheitlichkeit zwischen Hiragana, Katakana und Kanji zu gewährleisten, greifen viele Webseiten-Betreiber daher auf etablierte Zeichensätze zurück.

Diese schriftseitige Eingeschränktheit trägt wiederum ihren Teil zur starken Verbreitung der mannigfarbigen Bannerwerbungen bei. Auf diesen Inseln der Kreativität können sich die Designer in Form und Farbe etwas mehr ausleben und so auch ausgefallenere und vor allem kantengeglättete Fonts benutzen, die gleich einen viel anspruchsvolleres und elegantes Bild vermitteln können.

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goo.ne.jp – Ein Webportal, welches noch von vielen Nutzern als Startseite benutzt wird.

Es stellt sich folglich die Frage, warum das sonst als Technologievorreiter angesehene Japan in Sachen Webdesign und –architektur, so grundverschieden und altbacken zu westlichen Vergleichen erscheint. Um dieses Rätsel auflösen zu können, muss man, wie so oft, auf die Anforderungen und Wünsche der japanischen Gesellschaft blicken.

Wie die japanische Gesellschaft die Form des Internets mitbestimmte

Befragt man Japaner zu westlichen Webpage-Designs, welche durch negative Räume eine eher minimalistische und aufgeräumte Atmosphäre schaffen, attestiert ein Großteil der Befragten einen leichten Mangel an Glaubwürdigkeit. Diese Unzulänglichkeit, so wird ausgeführt, entstehe durch zu wenig sofort einsehbare Information. Füllt man die leeren Räume der Seite mit Bannern und mehr Inhalten, äußern die Befragten nur noch selten negatives Feedback zum Aussehen der Website. Die White-Spaces der Pages werden also nicht als Raum gesehen durch welchen die Inhalte „atmen“ und an Wichtigkeit gewinnen können, sondern schlicht als verschenkter Platz, der besser genutzt werden könnte. Genauso wie in den Großstädten ersuchen Firmen so auch bei der Webpräsenz, jeden noch so kleinen Freiraum mit Werbung und Informationen zuzupflastern.

Diese Einstellung der Unternehmen und Benutzer steht interessanterweise im kompletten Gegensatz zu den sonst weltweit bekannten japanischen Handwerks- und Designphilosophien. Beim Kaiseki etwa, die Kunst der minimalistischen japanischen Cuisine, bilden reduzierte Konturen und der artistische Einsatz von Leerräumen einen elementaren Bestandteil der Disziplin. Auch Zen-Gärten mit ihren sanft fließenden Formen und weiten, zu beharkenden Kiesflächen, strotzen nur so von minimalistischem Charme.

Die Ursachen der Anforderung nach Informationsüberfluss wiederrum, lassen sich in vielen Aspekten der japanischen Gesellschaft auffinden. Tatsächlich ist das Webdesign, welches wir bisher als typisch Japanisch beschrieben haben, kein isolierter Fall. Auch Webpages aus anderen ostasiatischen Ländern wie China oder Korea verwenden ähnlich gedrängte und textlastige Ausgestaltungen. Da in all diesen Ländern bis heute ein streng hierarchisches, konfuzianisch geprägtes Sozialsystem vorherrscht, kann man diese Gemeinsamkeit als Ausgangspunkt nutzen, um zu untersuchen wie die top-down Strukturen der japanischen Gesellschaft das Webseitendesign beeinflusst haben.

Die Annahme der gesellschaftlich starren Hierarchie scheint sich auch zunächst zu bestätigen, betrachtet man den Großteil der Eigentümer japanischer Websites: Unternehmen. In fast allen japanischen Firmen sitzen vornehmlich ältere Herren in Entscheidungspositionen, welche nicht unbedingt durch ihre fachliche Kompetenz an ihre Posten gekommen sein müssen. Oftmals ist es so, dass wenn ein Vorgesetzter in den Ruhestand geht, der Nächstälteste oder am längsten dienende Angestellte der Abteilung auf die freigewordene Position nachrückt. Da viele ältere Menschen nicht gerade technikaffin sind und eher konservativ handeln, kann dies u.a. das noch relativ weitverbreitete, rückständig anmutende Design japanischer Webpages erklären.

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yahoo.co.jp – Die ehemalige Nummer Eins der japanischen Webseiten ist hinter google.co.jp auf den zweiten Platz der am meist besuchten gelandet. Dennoch präsentiert sich das Webdesign eher konservativ japanisch.
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yahoo.de – Im Vergleich zur japanischen yahoo-Seite wirkt die Deutsche viel moderner und dank der vielen Bilder und White-Spaces übersichtlicher.

Die alte Garde japanischer Geschäftsmänner ist zu dem sehr abgeneigt, unbekannte Risiken, wie sie etwa durch ein grundlegend modernisiertes Page-Design auftreten könnten, in Kauf zu nehmen. Sie setzen lieber auf altbekannte und bewährte Designs, was dazu führt, dass die „neuen“ Ausgestaltungen vieler Websites sich nur minimal von ihren Vorgängern unterscheiden.

Durch den konservativen Willen sind weiterhin noch einige veraltete Technologien, wie das Faxgerät und Windows XP samt Internet Explorer, in zahlreichen Betrieben im Einsatz. Eine Umstellung, hin zu moderneren Technologien, ist der Führungsriege oft zu aufwändig und zu risikobehaftet. Schließlich, so ist oft die Raison, scheint bisher ja auch alles ohne große Probleme funktioniert zu haben. Solche Fälle extremer Erneuerungsresistenz werden allerdings zunehmen seltener. Letztlich gehen auch die ältesten Vorstandsräte und Bosse irgendwann in den Ruhestand.

Die bisherige Voreingenommenheit des Führungspersonals sorgt daneben auch für Teils jahrelang unbesetzte Stellen von Webmastern oder -administratoren in vielen mittelständischen Unternehmen. Junge und qualifizierte Arbeitnehmer suchen sich lieber Stellen, in welchen sie ihren kreativen Fähigkeiten freien Lauf lassen können und nicht dauernd von in diesem Gebiet Unerfahrenen überstimmt werden. Auch der demographische Wandel Japans spielt sicherlich mit in diese Dynamik hinein. Dieser verwandelt den japanischen Arbeitsmarkt langsam aber stetig in einen Anbietermarkt. Die zukünftigen Angestellten genießen so eine allmählich größere Auswahl an Posten und eine verstärkte Verhandlungsposition.

Vom nutzerunfreundlichen Anfängen zum modernen Netz

Eine weitere Besonderheit der japanischen Gesellschaft, ist dessen teils immer noch andauernde Versessenheit über Klapp-Handys. Da die meisten dieser Mobiltelefone zu ihrer Blütezeit in den 2000er Jahren internetfähig waren, hatte auch deren weitverbreitete Nutzung einen gewissen Einfluss auf das Webdesign. Durch die kleinen Displays bedingt, musste so möglichst viel Inhalt auf kleinem Raum, in möglichst datensparender Weise, dargestellt werden. Eng gedrungene Textdesigns in Standardschrifttypen und geringauflösende, einfarbige Banner konnten genau jenen Zweck erfüllen.

klapp-handy

Den Grundstein japanischen Webdesigns legten jedoch zahlreiche etablierte Werbeagenturen und Firmen unwissender Weise, als sie zu Beginn der 1990er Jahre das Internet als kurzweiligen Trend belächelten. Grafikdesigner mussten sich immer noch ausschließlich durch analoge Medien profilieren und die Domäne des Internets wurde primär den Softwareentwicklern und weniger erfolgreichen Designern überlassen. Der Designqualität des japanischen Internets war es ebenfalls nicht zuträglich, dass zu dieser Zeit kaum ein Japaner an englischen Internetinhalten interessiert war. Aufgrund der offensichtlichen Sprachbarriere, welche bis heute besteht, wurde selten über den Tellerrand des eigenen Webspace hinausgeschaut und ein Interesse an alternativen, international angepassten Designs kam nicht auf.

Trotz der heutigen weiten Verbreitung von Smartphones, stößt man immer wieder über japanische Internetseiten ohne gesondertes Layout für mobile Geräte. Dies rührt zum Teil daher, dass Websites auch zu Zeiten der Klapp-Handys zwar mit deren Ansprüchen im Hinterkopf designt wurden, es aber keine separate Version der Seiten für den PC und das Mobiltelefon gab. Ferner kann die Nutzweise der Smartphones durch die japanische Bevölkerung ein weiterer Anhaltspunkt für die Rigidität der Webseiten sein. Anstatt das Smartphone zu verwenden um damit während des Pendelns im Zug oder in der Freizeit im Internet zu surfen, macht ein Großteil der Japaner ausgiebigen Nutzen von Apps. Da die Inhalte der Applikationen bereits auf diese zugeschnitten sind, kommt der mobilen Benutzerfreundlichkeit vieler japanischer Webpages oft keine besonders hohe Aufmerksamkeit zu.

Trotz der vielen konservativen Einflüsse auf die Welt des japanischen Webdesigns, ist die Branche im Umbruch. Bisher im alten Stil aufgetretene Online-Kaufhäuser wie rakuten.co.jp oder yodobashi.com änderten in den letzten Jahren, in einer für japanische Webpagegestaltung umfassenden Weise, ihr Design. Die neuen Präsenzen wirken in der Tat wie Hybride zwischen dem alten Seitenlayout und heutigen moderneren Websites. Dieser graduelle Umschwung hat gewiss etwas mit den Kalkül zu tun, die älteren Kunden nicht mit einem Grundlegend neuen Design überfordern und verschrecken zu wollen. Auch waren die bisher etablierten Stores durch die rasant gewachsene Popularität von amazon.co.jp gezwungen, sich dem Trend der aufgeräumt wirkenden Webseiten anzupassen.

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yodobashi.com – Die Seite des Elektronikfachmarkts Yodobashi Camera hat sein Design modernisiert. Einzelheiten, wie die Banner auf der rechten Seite, sind Zeugen eines gemischten Designansatzes.

Große Konglomerate der japanischen Wirtschaft wie Toyota, Mitsubishi, Hitachi und Sumitomo haben diesen Schritt jedoch schon längst hinter sich und können auch im internationalen Vergleich mit den Webpräsenzen der Konkurrenz mithalten.

Wer also jetzt noch klassisch japanisches Webdesign hautnah erfahren möchte, sollte sich mitunter beeilen. Denn wird der Trend westlicher Designs weiter verfolgt, könnte die archaische Ästhetik beliebter japanischer Internetseiten in schon ein paar Jahren ausgestorben sein.

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