Kamuy: Die Glaubenswelt der Ainu

Maria-Laura Brandmann
Maria-Laura Brandmann

Die Ainu, Ureinwohner der nördlichen Insel Hokkaidō, unterscheiden sich nicht nur ethnisch, sondern auch kulturell stark von der Mehrheitsbevölkerung Japans. Besonders ihre farbenreiche Glaubenswelt wirkt auf uns, die wir vom Christentum geprägt sind, fremd und faszinierend zugleich.

Das iomante ist eines der bedeutendsten Rituale im Ainu-Glauben. © Murase Yoshinori / Public domain Wikimedia Commons

Anders als in der monotheistischen Vorstellung eines einzigen Gottes glauben die Ainu an eine Vielzahl von kamuy – mächtige spirituelle Wesen, die in Bäumen, Flüssen, Bergen oder Steinen wohnen und in Tier- oder Menschengestalt erscheinen können. Vor allem Bären und Füchse gelten als Manifestationen der kamuy. Wird eines dieser Tiere erlegt, so opfert sich im Ainu-Glauben eine Gottheit, um dem Menschen Kraft und Nahrung zu spenden. Entsprechend werden diese Tiere nicht nur als Nahrungsquelle betrachtet, sondern in feierlichen Ritualen geehrt.

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Am Anfang war das Chaos

Bei den Ainu existiert keine einheitliche Schöpfungsgeschichte, denn die Überlieferungen variieren von Erzählung zu Erzählung. In einem Punkt sind sich jedoch alle einig: Am Anfang war das Chaos. Der schwere Bestandteil dieser Urmaterie sank herab und formte die Erde, während der leichtere zum Himmel emporstieg. Aus der Erde ging ein männlicher Schöpfer-kamuy hervor, aus dem Himmel stieg sein weibliches Gegenstück auf einer farbenschimmernden Wolke herab. Gemeinsam nahmen sie die Farben dieser Wolke und gestalteten daraus die Welt. Aus dem Blau die Ozeane, aus dem Gelb die Erde, aus dem Rot Gold und Silber und aus dem Weiß schließlich Pflanzen, Vögel und Tiere. Danach brachten sie weitere kamuy hervor – die Sonne und den Mond, die am Himmel erstrahlen, sowie den Feuer-, Erd- und Metall-kamuy, die den Menschen das Jagen und den Ackerbau lehrten und sie im Herstellen von Kleidung und Werkzeugen unterwiesen. Es heißt, die ersten kamuy seien auf den heiligen Berg Shiribeshi, den wir heute als Yōtei-zan kennen, herabgestiegen, um die Welt zu ordnen und den Menschen ihre Gaben zu schenken.

Noch heute beherrscht der Yōtei-zan mit seiner majestätischen Gestalt das Landschaftsbild. © TwiggyBBT / photoAC

Die Welt der kamuy

Nicht nur Lebewesen, auch Gegenstände und Naturkräfte gelten in der Glaubenswelt der Ainu als Wohnstatt der kamuy. So ist Ape-kamuy, die Göttin des Feuers, im Herd oder am Lagerfeuer gegenwärtig und spendet Wärme. Waka-ush-kamuy wiederum lebt in Quellen und Brunnen und versorgt die Menschen mit Wasser. Am Himmel wirkt Chep-kamuy, der die Fische aus den Wolken in die Gewässer herablässt, während Yuk-ar-kamuy den Jägern Wildtiere zuführt. Besonders mächtige Tiere, allen voran der Bär, gelten als höchste Gaben der Gottheiten. Sie werden als göttliche Besucher verstanden, die sich gutmütigen Menschen in Gestalt von Tieren zeigen und ihnen Fleisch und Fell schenken. Daher begegnen die Ainu den erlegten Tieren mit tiefer Dankbarkeit und ehren sie in aufwendigen Ritualen.

Bei den Ainu werden Tiere als Manifestationen von kamuy verehrt. ©KINMOKU / photoAC

Da die Ainu vor allem Jäger und Fischer waren, folgen ihre Feste keinem festen Kalender mit Feiertagen. Stattdessen richten sie sich nach dem Lauf der Jahreszeiten. So wird im Frühling das kamuy-nomi gefeiert, bei dem für einen reichen Fischfang gebetet wird. Im Sommer bereitet man sich auf den Lachsfang vor und ehrt beim kamuy-nomi den Fluss- und Wassergott. Mit dem ersten Schneefall beginnt die Jagdsaison, in der man sich an Ape-kamuy wendet, um Schutz und eine erfolgreiche Beute zu erbitten. Zu den wichtigsten rituellen Gegenständen der Ainu zählen die inau – kunstvoll geschnitzte Holzstäbe, die den kamuy als Opfer dargebracht werden – sowie die ikupasuy, Gebetsstäbchen, die mit Sake bestrichen und bei Zeremonien verwendet werden. Mit ihnen hofft man, dass die Worte der Menschen zu den Gottheiten getragen werden.

Das Ainu-Kotan am Akan-See zählt zu den bekanntesten Ainu-Dörfern und eröffnet Besuchern die Möglichkeit, mit der einzigartigen Kultur und Glaubenswelt dieses Volkes in Berührung zu kommen. © madk / photoAC

Iomante – das Bärenabschiedsritual

Nach dem Glauben der Ainu lassen sich mächtige Tiere wie Bären nur von Menschen fangen, deren Herz rein ist. Um sich bei den Gottheiten für eine solche Gabe zu bedanken, wurde die Seele des Tieres in der Vergangenheit mit inau-Stäben geehrt und in die Welt der kamuy zurückgesandt. Aus dieser Vorstellung heraus entwickelte sich eines der bedeutendsten Rituale der Ainu: das iomante. Wurde eine Bärenmutter erlegt, die ein Junges hinterließ, nahmen die Ainu das Tier mit ins Dorf und zogen es dort groß. Berichte aus der Meiji-Zeit schildern, dass man gefangene Bärenjunge in der Region Iburi beispielsweise mit gebratenem weißen Reis, der mit Zucker vermengt war, fütterte. Wuchs der Bär heran, wurde er in einem größeren Gehege gehalten, wo Tänze, Gesänge und Opferhandlungen zu seinen Ehren stattfanden. Nach etwa einem Jahr, meist im Winter, vollzog man das iomante. Der Dorfälteste sprach Gebete an die Ape-kamuy, dann führte man den Bären in feierlicher Prozession in das Dorfzentrum. Kinder und Jugendliche beschossen ihn zunächst mit rituellen Pfeilen, während Frauen mit Gesängen den Abschied begleiteten. Schließlich wurde der Bär durch echte Pfeile, Speere oder das Zuziehen eines Halsseils getötet. In dieser Handlung sahen die Ainu keine bloße Tötung, sondern die Trennung der Seele vom Körper. Der Bär-kamuy sollte mit den Gebeten und Geschenken der Menschen beladen in seine göttliche Heimat zurückkehren und künftig erneut Gaben in Gestalt von Tieren senden.

Im Jahr 1955 forderte die Präfektur Hokkaidō die Kommunen auf, das iomante abzuschaffen. Diese Regelung blieb über fünfzig Jahre bestehen, bis sie im April 2007 wieder aufgehoben wurde. Vorausgegangen war eine Erklärung des japanischen Umweltministeriums vom Oktober 2006, in der dargelegt wurde, dass Tieropferungen im Rahmen traditioneller Rituale grundsätzlich als Ausnahme vom japanischen Tierschutzgesetz gelten.

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Die Jenseitsvorstellungen der Ainu

Auch über das Leben nach dem Tod haben die Ainu klare Vorstellungen, die sich von vielen anderen Religionen unterscheiden. Das Jenseits gilt als eine Art Spiegelwelt, in der alles ins Gegenteil verkehrt ist. Wer im Sommer stirbt, muss mit wärmenden Kleidern ausgestattet werden, da er sich im Jenseits inmitten von Schnee und Eis wiederfindet. Wer im Winter verstirbt, erhält dagegen leichte Gewänder, weil im Jenseits sommerliche Hitze herrscht. Ebenso werden den Verstorbenen Speise und Trank beigegeben, doch stets in jener Form, die im Diesseits unbrauchbar scheint: zerbrochene Schalen, abgestumpfte Messer oder halbverbrannte Stöcke. In der Logik der Ainu wird im Jenseits aus dem Unbrauchbaren das Wertvollste. Auf diese Weise stellen die Hinterbliebenen sicher, dass der Verstorbene im Reich der kamuy nicht Not leidet, sondern gut ausgerüstet und versorgt ankommt.

Die Glaubenswelt der Ainu zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie untrennbar Religion, Natur und Alltag miteinander verbunden sind. Rituale, Mythen und Opferhandlungen zeugen von einer tiefen Ehrfurcht vor der Natur, die nicht bloß als Lebensgrundlage, sondern als Wohn- und Wirkstätte der kamuy verstanden wird. Bis in die Gegenwart hinein übt dieses Weltbild eine eigentümliche Faszination aus und findet auch in der modernen Kultur seinen Widerhall – etwa im preisgekrönten Manga Golden Kamuy, der die Ainu-Traditionen künstlerisch aufgreift und einem breiten Publikum nahebringt.

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