Auf Hokkaidō stand der Dichter Imai Kyōtarō (1928–2012) auf der Halbinsel Shiretoko dem Ohōtsuku-kai (Ohotskischen Meer) gegenüber:
Shiretoko no umi o nagaruru kōri kana
„Auf der Halbinsel Shiretoko stehe ich und staune, wie Eisbrocken vor mir treiben.“
Das Jahreszeitenwort (kigo) dieses Haiku ist kōri (氷, Eis). Dabei ist nicht eine gewöhnliche Eisschicht gemeint, wie man sie an heimischen Flüssen findet, sondern das vom Norden herantriebende Treibeis, bestehend aus zigtausenden Eisbrocken. Die Eisschollen füllten das Meer vor den Augen des Dichters und verwandelten die gesamte Gegend in eine weiße, fast magische Welt.

Im Inland zeigt sich die Landschaft etwas freundlicher. Der durch seine humorvollen Haiku bekannte Kobayashi Issa (1763–1828) schrieb:
Ōnehiki ōne de michi o oshiekeri
„Auf meine Frage nach dem Weg zeigte mir der Bauer die Richtung mit seinem frisch geernteten weißen Rettich.“
Das kigo hier ist ōne (おおね, Rettich), da dieser in Japan traditionell vor allem im Winter geerntet wurde. Der weiße Rettich wurde früher ōne genannt; heute verwendet man für das gleiche Kanji meist die On-Lesung daikon.
Dieses Haiku zeigt eine stille, aber zugleich humorvolle Begegnung zwischen einem Reisenden im dicken Kimono und einem Bauern, der mit dem Rettich in seiner frierenden Hand den Weg weist. Eine solche Szene ist in Deutschland kaum vorstellbar, denn dort wird Rettich überwiegend im Sommer geerntet – weshalb einige deutsche Städte ihr Rettichfest an lauen Sommerabenden bei fröhlicher Musik feiern.

An der sonnigen Pazifikküste Japans wurde im Haus zwar für gute Zugluft im schwülen Sommer gesorgt, doch für die Heizung wenig getan. Der Haikudichter Yamaguchi Seishi (1901–1994) beschrieb die Kälte in Tōkyō eindrücklich:
Gakumon no sabishisa ni tae sumi o tsugu
„Während des Studiums muss man sich allein mit der Wissenschaft auseinandersetzen, welch eine Einsamkeit. Ich lege noch eine Holzkohle in meinen kleinen Hibachi-Ofen.“
Das kigo hier ist sumi (炭, Holzkohle). Als Yamaguchi 1924 dieses Haiku schrieb, war er vermutlich bereits an einer Lungenentzündung erkrankt. Die Kälte und Einsamkeit in seiner Studentenbude machten ihm damals besonders zu schaffen.

Der bekannte Masaoka Shiki (1867–1902) aus Tōkyō war der erste Haikudichter, der kurisumasu (クリスマス, Weihnachten) als Jahreszeitenwort benutzte.
Rōhachi no atoni kashimashi kurisumasu (1892)
„Nach dem buddhistischen Laba-Fest folgt das lärmende Weihnachtsfest.“Hachinin no kodomo mutsumashi kurisumasu (1896)
„Ich sehe zu Hause acht Kinder fröhlich Weihnachten feiern und bin glücklich darüber.“Okurimono no kazu o tsukushite kurisumasu (1899)
„So viele Geschenke! Ich freue mich, dass die Leute gegenseitig Geschenke austauschen.“
An diesen Haiku lässt sich sein Sinneswandel ablesen: Zunächst wurde Weihnachten als eine fröhlich-laute, amerikanische Feier wahrgenommen, im Laufe der Zeit jedoch als ein sinnliches, mitfühlendes Familienfest verstanden.

Wie dichtet man den Winter auf der Südspitze in Okinawa? Der Englischlehrer Sawa Seishi schrieb 2016:
Fuyuginga chika ni memureru ikotsu ari
„Unter dem wunderschönen Sternenhimmel, der im Winter besonders klar zu sehen ist, liegen unter der Erde noch die Überreste der Kriegsopfer, die nicht geborgen wurden und keine Ruhe finden können.“
Das kigo ist fuyuginga (冬銀河, die Wintergalaxie). Der schaudernd klare Sternenhimmel über Okinawa erinnert uns an die noch nicht geheilten Wunden der Vergangenheit.

Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST Oktober 2025-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.











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