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Vom Super-Manager zum gestürzten Idol: Der Aufstieg und Fall des Carlos Ghosn

Christiane Süßel
Christiane Süßel

Im November 2018 wurde der gefeierte Top-Manager Carlos Ghosn wegen Veruntreuung verhaftet. Geradezu filmreif war seine Flucht aus Japan in den Libanon Ende 2019. Es ist die Geschichte eines Erfolgsmannes, der spektulär von oben nach ganz unten stürzte.

Carlos Ghosn bei einer Pressekonferenz im Libanon
© Abd Rabbo Ammar/ABACAABACA/PA Images

Es gibt nicht viele Ausländer, die es in Japan ganz nach oben an die Spitze eines japanischen Konzerns schaffen. Carlos Ghosn ist so ein Top-Manager. Der Mann mit drei Staatsangehörigkeiten sanierte den maroden japanischen Autobauer Nissan und erntete hierfür viele Lorbeeren. Doch so bemerkenswert sein Höhenflug war, so tief ist sein Absturz. Ende Dezember floh der einstige Spitzenmanager, dem die japanische Justiz unter anderem Veruntreuung vorwirft, in einer Kiste versteckt aus Japan und hat derzeit im Libanon Zuflucht gefunden. Auf die spektakuläre Flucht folgt nun ein Wortgefecht zwischen ihm und der japanischen Justiz. Ghosn sieht sich als Opfer einer Intrige und wirft den Behörden Verstöße gegen die Menschenrechte vor.

Karriere auf der Überholspur

Carlos Ghosn oder „ゴーンさん“ (Gōn-san), wie er in Japan genannt wird, war lange ein Vorzeige-Manager. Ganz Japan horchte auf, als der gebürtige Brasilianer 1999 mit der Mission nach Tōkyō kam, den schlingernden Autobauer Nissan zurechtzurücken. Renault-Chef Louis Schweizer hatte zuvor die Beteiligung der Franzosen an Nissan eingefädelt und Ghosn mit den Aufräumarbeiten beauftragt. Der hatte sich schon bei Renault den einschlägigen Ruf als harter Sanierer erarbeitet. Ghosn krempelte also die Ärmel hoch, fegte kräftig durch und schaffte es 2001 auf den Nissan-Vorstandssessel.

Während ihn die weltweite Autobranche als Kostenkiller fürchtete, feierte Japan ihn als einen Helden. Das Land huldigte ihm in einem eigenen Manga und Kaiser Akihito verlieh ihm 2004 für seine erfolgreiche Arbeit einen kaiserlichen Orden. 2005 übernahm der 1954 in Brasilien geborene Libanese dann zusätzlich bei Renault das Steuerrad, wo er die Nachfolge seines Mentors Schweizer antrat, der ihn 1996 von Michelin zu Renault geholt hatte. Fortan leitete Ghosn die beiden Autokonzerne in Personalunion: ein Novum in der Automobilindustrie. Er jettete zwischen Paris und Tōkyō hin und her und soll über hundert Stunden pro Woche gearbeitet haben. 2007 bekam das strahlende Image des erfolgsverwöhnten Weltenbürgers erstmals Kratzer, als Ghosn für Nissan nach einem eingebrochenen Absatz eine Gewinnwarnung herausgeben musste. Zeitgleich warfen drei Selbstmorde von Renault-Mitarbeitern ein schlechtes Licht auf die Arbeitsbedingungen im Konzern.

Doch Ghosns Image tat all dies keinen Abbruch. Auch nach der Finanzkrise, die die Autobranche 2009 durchwirbelte, gelang es dem Macher, die beiden Autobauer wieder auf Spur zu bringen. 2016 band er über eine Beteiligung von Nissan auch Mitsubishi in das Autobündnis ein. Branchenkenner urteilen, die beiden japanischen Autobauer hätten ohne die Allianz kaum überlebt. Der Titan jedenfalls führte die in einer Ehe verbandelten Autobauer Renault-Nissan insgesamt fast 20 Jahre mit Erfolg. Um sich auf die Geschäfte bei Renault und Mitsubishi zu konzentrieren, wechselte er 2017 vom CEO-Posten bei Nissan in den Verwaltungsrat.

carlos ghosn zeitungsartikel
Japanische Zeitungsartikel nach Ghosns Verhaftung 2018. © Rodrigo Reyes Marin/Zuma Press/PA Images

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Nach der Erfolgswelle der Sturz

Der tiefe Sturz des erfolgsverwöhnten Carlos Ghosn nahm am 19. November 2018 seinen Anfang, als er in Tōkyō verhaftet und wenig später angeklagt wurde. Ihm wird vorgeworfen, gegen Börsenauflagen verstoßen zu haben. Der schillernde Nissan-Boss soll über Jahre hinweg nur die Hälfte seines Einkommens ausgewiesen und private Investitionsverluste auf Nissan abgewälzt haben. Mit veruntreuten Geldern soll er des Weiteren Luxusimmobilien in vier Ländern finanziert haben. Nissan und Mitsubishi setzten Ghosn postwendend als Vorsitzenden ihrer Verwaltungsräte ab. Im Januar 2019 trat er auch von seinem Chefposten bei Renault zurück. 130 Tage verbrachte die einstige Lichtgestalt in Haft, bevor er im April 2019 unter strengen Auflagen gegen eine Kaution von 1,5 Mrd. Yen (umgerechnet rund 12 Mio. Euro) freigelassen wurde.

Doch auch danach war er nicht wirklich frei. Um seine Flucht Ende Dezember 2019 ranken sich wilde Geschichten. Offensichtlich halfen ihm zwei eigens eingereiste Amerikaner bei der Nacht- und Nebel-Aktion. In einer Kiste versteckt soll er in einem Privatjet aus dem Land geflohen sein. Aktuell ist Ghosn im Libanon, wo er als freier Mann lebt, aber das Land nicht verlassen darf. Die Behörden haben ihm seinen französischen Pass abgenommen, er besitzt noch die brasilianische und libanesische Staatsangehörigkeit. Da er inzwischen auch per internationalem Haftbefehl gesucht wird, wird er wohl bis auf weiteres im Libanon bleiben müssen. Die japanischen Behörden fordern lautstark seine Auslieferung, doch zwischen dem Libanon und Japan gibt es kein Auslieferungsabkommen.

Carlos Ghosn bei einer Pressekonferenz im Libanon
Carlos Ghosn bei einer Pressekonferenz im Libanon im Januar 2020 nach seiner aufsehenerregenden Flucht. © Abd Rabbo Ammar/ABACAABACA/PA Images

Gründe für Ghosns Scheitern

Doch warum ist Ghosn gescheitert? Der japanische Autoanalyst Nakanishi Takaki sieht eine „Palastrevolte“ am Werk, die angezettelt wurde, um Nissan zu „re-japanisieren“. In der Tat fällt Ausländern häufig die Aufgabe zu, in taumelnden japanischen Unternehmen aufzuräumen. Das war bei Ghosn nicht anders als etwa bei Sony-Chef Howard Stringer oder Mark Fields bei der Firma Mazda. Alle drei mussten am Ende gehen und ihnen folgten Japaner. Ghosn wurde durchaus auch sein immer stärkerer Drang, Dinge allein zu entscheiden, zum Verhängnis. Alleingänge sind im Land des steten Strebens nach Harmonie auch an der Spitze von Konzernen nicht gern gesehen. Für Ghosn blieb das alte Prinzip des nemawashi ein Fremdwort, will heißen: Er versäumte es, das gesamte Management in die Konsensfindung einzubinden – ein Fakt, der ihm das Genick gebrochen haben könnte. Argwöhnisch wurde auch sein Spitzengehalt beäugt. Manch ein Beobachter sieht hierin seinen Sargnagel.

Nachspiel

Auch Ghosn sieht sich als Opfer. In einer Wutrede sprach der geschasste Manager von einer Verschwörung gegen ihn, mit der vor allem verhindert werden solle, dass Nissan noch enger an Renault angebunden wird. Das Verfahren der japanischen Justiz gegen ihn sei damit politisch motiviert. Ghosn prangert auch lautstark die schlechten Haftbedingungen an. Neben stundenlangen Verhören ohne Anwalt habe er überwiegend in Einzelhaft gesessen, durfte seine Frau kaum sehen und nur 30 Minuten am Tag an die frische Luft. Er sei auch nach seiner Freilassung als „Geisel“ eines Landes gehalten worden, dem er lange gedient habe.

Japans Justizministerin Mori Masako verteidigte das japanische Rechtssystem: Ghosn wolle mit seinen Anschuldigungen nur von seinem eigenen Fehlverhalten ablenken, argumentierte sie. In der Tat wird den Strafbehörden in Japan immer wieder vorgeworfen, ihre Verhörtaktik ziele darauf ab, Schuldeingeständnisse zu erzwingen. Die Vorwürfe reichen bis hin zu einer sogenannten Geiseljustiz. Allerdings hat Japan auf externe Kritik reagiert. Es wurden Jury-Gerichte eingeführt und Verhöre werden nun aufgezeichnet. Unklar bleibt, was an den Vorwürfen der Veruntreuung dran ist. Hat Ghosn sich bereichert? Oder gab es tatsächlich eine Verschwörung von Nissan, Staatsanwaltschaft und Regierung, um Ghosn loszuwerden und den Einfluss Renaults und Frankreichs auf Nissan zu verringern?

Inzwischen hat Nissan Ghosn auf Schadensersatz in Höhe von 10 Mrd. Yen (umgerechnet 83 Mio. Euro) verklagt. Dieser Schaden sei entstanden, weil Ghosn Firmenjets privat genutzt und Immobilien bewohnt habe, ohne dafür Miete zu zahlen. Hinzu kommen seine Anwaltskosten und die Aufwendungen für die internen Ermittlungen gegen ihn. Im Schlagabtausch Ghosn gegen Nissan bzw. gegen Japan dürften weitere Kapitel folgen.

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