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Tanshin funin: Japans vaterlose Gesellschaft

Christiane Süßel
Christiane Süßel

Im japanischen Arbeitsleben gehören regelmäßige Versetzungen des Arbeitsortes oft zum Alltag. Für Familien bedeutet dies, ständig umziehen zu müssen. Was passiert, wenn sich ein Ehepaar dafür entscheidet, nicht gemeinsam umzuziehen, sondern fortan getrennt zu leben, lesen Sie hier.

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Nur selten ist die ganze Familie am Esstisch vereint. (c) Christiane Süßel

Es sind vor allem die großen japanischen Unternehmen, die ihre Angestellten in relativ kurzen Intervallen an neue Arbeitsorte versetzen. Der ständige Ortswechsel ist vor allem für Familien mit Kindern eine große Belastung. Viele von ihnen entscheiden an einem Punkt, dass sie dieses Nomadenleben beenden und leben fortan getrennt.

In Europa und den USA ist das klassische Familienmodell mit Vater, Mutter und Kindern fast schon ein Auslaufmodell. In Folge von Scheidungen, Trennungen oder dem Fehlen von Vätern gibt es immer mehr alleinerziehende Mütter. Längst mahnen Soziologen und Psychologen, dass in dieser „vaterlosen Gesellschaft“ eine Generation ohne männliche Rollenvorbilder heranwächst. Auch in Japan gibt es eine solche Diskussion. Ursache für getrennte Familien sind im Inselreich jedoch meist Firmenordern und seltener frei gewählte Trennungen von Partnern. Für ein Fortkommen im System der lebenslangen Anstellung shūshin koyōsei (終身雇用制) verlangen viele japanische Unternehmen von ihren Mitarbeitern, alle zwei bis drei Jahre an einen anderen Arbeitsort zu wechseln. Die Familien müssen wohl oder übel mitziehen. Viele Familien entscheiden an einem Punkt, dieses Nomadenleben zu beenden und die Väter alleine umziehen zu lassen. Für das Phänomen der aus beruflichen Gründen von ihren Familien getrennt lebenden Ehegatten gibt es den Begriff tanshin funin (単身赴任). Seit einigen Jahren denkt man auch in Japan darüber nach, welche Folgen diese Trennung von Familien für die Kinder hat. Vor allem Jungen fehlt ein väterliches Rollenvorbild. Mütter müssen meist beide Rollen übernehmen und viele Entscheidungen allein treffen. Ehen stehen oftmals unter enormem Druck. Tanshin funin ist einer der Gründe für Scheidungen. Was dieses Modell den Familien tatsächlich abverlangt, erzählt die folgende Familiengeschichte:

Aki wusste, auf was sie sich da einlässt. Als sie Mitsutoshi 2001 heiratete war klar, dass die kleine Familie, die sie gründen wollten, sich nicht an einem Ort niederlassen würde. Mitsutoshi unterschrieb als verbeamteter Ingenieur einen Arbeitsvertrag, laut dem er jederzeit landesweit versetzt werden kann. In den 16 Jahren, die Aki und er nun verheiratet sind, mussten sie sechs Mal gemeinsam umziehen. Meist blieb die inzwischen vierköpfige Familie nur zwei Jahre an einem Ort, dann hieß es wieder Kisten packen. Das war vor allem für Keishin, ihren Sohn, hart. Er musste sich immer wieder neue Freunde suchen, konnte nirgends Wurzeln schlagen. 2014 kam die Familie schließlich nach Tsuruoka, eine kleine Stadt in der Präfektur Yamagata. „Die Menschen sind sehr nett hier und die Lebensqualität hoch“, erklärt Aki. Ein Grund für die Familie sich hier niederlassen. „Mitsutoshi und ich haben beschlossen, dass wir in Tsuruoka unseren Lebensabend verbringen möchten“, erklärt Aki. Das Baugrundstück ist gekauft. Bis zum Winter soll das neue Familiendomizil stehen. Die Koordination des Hausbaus hängt nun an Aki, denn als Mitsutoshi vor knapp zwei Jahren beruflich wieder versetzt wurde, hatte das Ehepaar beschlossen, dass Aki, Keishin und die kleine Minamo nicht mitziehen. Seither praktizieren sie das Modell tanshin funin.

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Seitdem Mitsutoshi nach Hirosaki versetzt wurde, muss Aki neben dem normalen Haushalt auch alle organisatorischen und bürokratischen Dinge allein erledigen. Sie ist für die Sorgen und Nöte der Kinder nun oft der alleinige Anlaufpunkt. (c) Christiane Süßel

Ähnlich ergeht es in Japan zahlreichen Familien. Die Statistiken sind unscharf. Eine listet für 2014 über 1,02 Millionen allein lebende Verheiratete auf. Der überwiegende Großteil davon sind Männer. Die Zahlen steigen beständig. Eine Übersicht auf Basis einer Unternehmensbefragung zählt 3,17 Millionen allein lebende Ehegatten. Rund 30 Prozent der japanischen Firmen verlangen von ihren Angestellten einen beruflichen Ortswechsel, knapp 20 Prozent leben das Modell tanshin funin. Versetzungen sind vor allem in großen Konzernen Usus. Der am häufigsten genannte Grund für die Entscheidung, nicht weiter dem Familienvater hinterherzuziehen, ist die Schulkarriere der Kinder, denn spätestens, wenn die Kinder in der Mittelschule sind, gehen ständige Schulwechsel zu Lasten der Schulnoten. Weitere Gründe für dieses Modell sind der Unterhalt eines Hauses oder der Gesundheitszustand beziehungsweise die Pflegebedürftigkeit von Familienmitgliedern.

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Sieben Stunden dauert die Fahrt für Mitsutoshi, wenn er seine Familie besucht. Zwischen seinen Besuchen in Tsuruoka hält die Familie per Telefon den Kontakt. (c) Christiane Süßel

Aki und Mitsutoshi haben dabei fast noch Glück. Mitsutoshi wurde bislang nur in Tōhoku, im Nordosten Honshus, versetzt. Aktuell arbeitet er in Hirosaki in der Präfektur Aomori. „Mit dem Regionalzug ist er für eine Stecke rund sieben Stunden unterwegs“, erklärt Aki. Wenn er samstags losfährt und sonntags schon wieder zurück muss, dann lohnt sich der Weg kaum und so nimmt er die lange Anreise meist nur einmal im Monat auf sich. Länger bleibt er nur über Feiertage, wie etwa zur Golden Week im Mai oder zum Jahresende.

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Keishin büffelt für die Schule. Er ist jetzt in der dritten Klasse der Junior High School und muss sich auf die Aufnahmeprüfung der Senior High School konzentrieren. (c) Christiane Süßel

Keishin ist inzwischen 15 Jahre alt und geht in die dritte Stufe der Junior High School. Er muss sich in diesem Schuljahr auf die Aufnahmeprüfung zur Senior High School konzentrieren, aber seine Mutter Aki lässt ihm den Freiraum, selbstverantwortlich mit dem schulischen Druck umzugehen: „Sicher fehlt ihm sein Vater, aber das merkt man ihm nur manchmal an.“ Anders seine siebenjährige Schwester Minamo, die in der zweiten Klasse der Grundschule ist und ihren Vater sehr vermisst. Für sie ist es wichtig, die Stimme ihres Papas am Telefon zu hören. Dass das Lebensmodell auch an den Nerven der Erwachsenen zerrt, kann Aki nicht verbergen: Hausarbeit, Elternabende in der Schule, Engagement in Schulclubs und jetzt noch der Bau des neuen Eigenheims – das alles lastet schwer auf ihr. „Ich bin jetzt zudem die einzige Ansprechpartnerin, wenn die Kinder einen Rat brauchen“, erzählt sie. „Und ich muss viele alltägliche Entscheidungen ganz allein treffen.“ Dieses Gefühl, für alles alleine verantwortlich zu sein, ist hart. Wie schwer auch die emotionale Entfernung für die Ehepartner ist, das lässt erahnen, als Aki von einem lauten Streit berichtet, den sie und Mitsutoshi erst vor kurzem hatten. „Wir uns selbst erschrocken darüber, wie viel sich da wohl bei uns beiden angestaut hat“, reflektiert sie. Die gemeinsame Zeit ist für alle wertvoller geworden. Die Tage, an denen Mitsutoshi zu Hause ist, werden zum Ausnahmezustand. Um sich auch im Alltag wieder näher zu sein, wollen sie künftig nicht nur übers Telefon den Kontakt halten, sondern über Skype telefonieren. Wie viel das auffängt, bleibt abzuwarten. Unterdessen wird Aki bis auf weiteres eine alleinerziehende Mutter sein. „Mitsu und ich werden wohl erst wieder zusammenleben, wenn er pensioniert wird“. Bis dahin sind es immerhin noch rund 20 Jahre.

Wenn Minamo könnte, würde sie sich ihren Papa öfter nach Hause zaubern. (c) Christiane Süßel

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