Erdbeben auf der Noto-Halbinsel an Neujahr: Was diese Katastrophe so außergewöhnlich macht

Matthias Reich
Matthias Reich

Das Erdbeben vom 1. Januar 2024 auf der am Japanischen Meer gelegenen Noto-Halbinsel forderte Dutzende Menschenleben und zerstörte Infrastruktur sowie tausende Gebäude. Obwohl es in der Vergangenheit zahlreiche schwere Erdbeben gegeben hatte, sind die Umstände und Folgen in diesem Falle besonders außergewöhnlich.

WAfima Morgenmarkt nach dem Erdbeben
Der Morgenmarkt von Wajima war eine beliebte Touristenattraktion. Nach dem Erdbeben am 1. Januar 2024 wurde die Gegend fast vollständig zerstört. © SOPA Images Limited / Alamy Stock Photo

Es war ein furchtbarer Start in das neue Jahr für die Bewohnerinnen und Bewohner der Noto-Halbinsel (Präfektur Ishikawa), die wie ein Haken in das Japanische Meer ragt. Am 1. Januar 2024, kurz nach 16 Uhr, begann die Erde zu beben – gemessen wurde Stärke 7 auf der japanischen Erdbebenskala. Diese misst Erdbeben nach der Stärke der Wellen, die Zerstörungen hervorrufen, dabei ist 7 ist der höchstmögliche Wert. Auf der in anderen Ländern eher gebräuchlichen Richter-Skala maß man eine 7,6. Zum Vergleich: Das Hanshin-Awaji-Erdbeben in Kōbe 1995 sowie das Erdbeben in Kumamoto 2016 hatten beide eine Stärke von 7,3. Umgerechnet bedeutet, dass das Noto-Erdbeben in etwa doppelt so stark war als diese. Das schwere Tōhoku-Erdbeben vom 11. März 2011 hingegen war umgerechnet 25-mal stärker als das von der Noto-Halbinsel am Neujahrstag.

Das Problem mit der Erdbebenwirkung

Leider sagt die Stärke eines Erdbebens allein nicht allzu viel aus. Es gibt zahlreiche Faktoren, die bei der Berechnung der Wirkung eine wichtige Rolle spielen. Der Untergrund vor Ort zum Beispiel oder auch die Tiefe des Epizentrums. Letzteres lag im Falle des Tōhoku-Erdbebens etwa 70 km vor der Küste und in knapp 30 km Tiefe. Das Epizentrum des Noto-Erdbebens hingegen lag direkt unter der Halbinsel und in nur 16 km Tiefe, was die Zerstörung der betroffenen Region deutlich verschlimmert hat. Die japanische Erdbebenskala hat den Vorteil, diese beiden Faktoren auszuschalten, denn es wird nach “potenziellen Konsequenzen” bewertet.

Die Noto-Halbinsel nach dem Beben

Trotz aller Vorsicht und speziellen Bauvorschriften verursachen solch schweren Erdbeben überall ähnlich verheerende Schäden. Besonders schwer traf es die Gemeinden Suzu und Wajima – Suzu wurde keine Minute nach dem Beben von einem bis zu knapp 5 m hohen Tsunami getroffen, und in Wajima gingen rund um den historischen Morgenmarkt mehr als 200 Häuser in Flammen auf. Die Feuerwehr konnte dem nichts entgegensetzen, denn einerseits galt eine Tsunami-Warnung, andererseits gab es auf den Straßen aufgrund der zahlreichen eingestürzten Gebäude einfach kein Durchkommen.

2.000 Häuser in Wajima stürzten komplett ein, und weitere 4.500 Gebäude wurden mehr oder weniger stark beschädigt. Noch dramatischer sieht es derzeit in Suzu, das direkt neben dem Epizentrum liegt, aus: Bis zu 5.000 der insgesamt 6.000 Wohnhäuser dort sind nicht mehr bewohnbar. Sowohl in Suzu als auch in Wajima gab es in etwa 100 Todesopfer zu beklagen.

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Geomorphologische Veränderungen

Schaut man sich die geomorphologischen Folgen des Bebens an, wird man sich der ganzen Tragweite erst bewusst: Nahezu die komplette Halbinsel wurde angehoben – an ein paar Orten um bis zu 4 m. Ein kompletter Fischereihafen wurde als Folge schlagartig unbenutzbar, da der Meeresboden dort nun über dem Meeresspiegel liegt. An einigen Stellen wurde die Küste bis zu 200 m seewärts erweitert. Man geht davon aus, dass die ganze Halbinsel mehr als einen Meter nach Westen gerückt ist. Anders gesagt ist die Präfektur Ishikawa durch dieses einzelne Ereignis schätzungsweise 4,4 km² größer geworden – und hat somit möglicherweise die Nachbarpräfektur Fukui überholt.

Erdbeben auf der Noto-Halbinsel sind grundsätzlich eine geologische Besonderheit. Die gängige Theorie lautet, dass dort entlang von Verwerfungen Wasser aus dem Untergrund nach oben dringt, die Erdoberfläche aufbläht und dann durch spontane Kontraktionen für die Erschütterungen sorgt. Da diese direkt unter der Halbinsel und in geringer Tiefe entstehen, bleibt so gut wie keine Vorwarnzeit. Langfristig ist ein Trend jedoch deutlich erkennbar: Von Dezember 2020 bis zu einem ebenfalls schweren Erdbeben im Mai 2023 zählte man in der Region mehr als 330 Erdbeben. Die Gegend ist also bereits seit Jahren seismisch sehr aktiv.

Die Folgen für die Einheimischen

Glücklicherweise geschah das Erdbeben am Nachmittag. Die meisten Menschen waren also wach und konnten deshalb vor den Bränden und dem Tsunami vergleichsweise schnell fliehen. Die meisten Todesopfer waren durch einstürzende Gebäude zu beklagen. Die Tatsache, dass zu Neujahr viele Japanerinnen und Japaner Familien in ihren Heimatstädten besuchen, war Glück und Unglück zugleich. Zu den Opfern zählten auch Kinder, doch viele Heimkehrer konnten so die älteren Einheimischen schützen.

Die schweren Zerstörungen stellten und stellen noch die Einheimischen der Halbinsel vor eine Herkulesaufgabe, denn nahezu die komplette Infrastruktur wurde zerstört. Dutzende kleinere Gemeinden waren über eine Woche lang von der Außenwelt abgeschnitten, der örtliche Flughafen blieb wochenlang geschlossen und auch die Häfen waren entweder gar nicht oder nur bedingt zu gebrauchen. Gas, Wasser, Strom, Verkehrswege – nahezu alles wurde zerstört. Und da sich hier schwere Schäden auf engstem Raum mit stark beeinträchtigter Infrastruktur konzentrieren, ist die Koordination von Hilfe und Wiederaufbau besonders schwierig.

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Bevölkerungsschwund wird weiter befeuert

Seit 1981 gelten in Japan besonders strenge Baurichtlinien, um ein Mindestmaß an Erdbebensicherheit zu gewährleisten, doch allein in Wajima stammten mehr als 50 % der Bausubstanz aus der Zeit davor. Besonders in seismisch hochaktiven Gebieten wird Japan also nicht umhin kommen, mehr für die Sicherung und Sanierung alter Gebäude zu unternehmen. Das kostet viel Zeit und Ressourcen, gerade, wenn es um alte Wohnhäuser geht.

Leider ist zu befürchten, dass das Erdbeben vom Neujahrstag zu einer beschleunigten Entvölkerung der Noto-Halbinsel führen wird: Die Gegend kämpft ohnehin schon aufgrund von Überalterung, Landflucht und niedriger Geburtenrate mit einem enormen Bevölkerungsschwund. Rund 50 % der dortigen Bevölkerung sind älter als 65 Jahre, und nur unter 10 % jünger als 14 Jahre[1]. Die Stadt Wajima zum Beispiel hatte 1980 noch rund 45.000 Einwohner – 2020 waren es bereits unter 25.000.

Auch ein kulturelles Erbe ist in Gefahr: Das besonders schwer betroffene Wajima ist berühmt für traditionelle Lackarbeiten, doch zahlreiche Manufakturen und Geschäfte brannten nun nieder oder stürzten ein. Ob die Geschäftsinhaber:innen die Kraft haben, wieder von vorne zu beginnen, bleibt abzuwarten.


[1] Siehe hier: https://www.chusho.meti.go.jp/keiei/shokibo/ninteikeikaku/download/17-24.pdf

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