Vor dem Fenster meines Zimmers strahlte in rot der Tokyo Tower einladend in die Nacht und der Jetlag bot mir die perfekte Ausrede, mich in die nächtlichen Straßen von Tōkyō zu wagen. Es war schon nach 22 Uhr und die warme Sommerluft trug den Duft von frisch gegrillten Yakitori-Spießen aus einem nahegelegenen Izakaya herüber. Die prachtvolle Flaniermeile von Ginza, die tagsüber von eiligen Geschäftsleuten und Touristen bevölkert ist, hatte sich verändert: Das Neonlicht der Werbetafeln mischte sich mit dem Schein der Straßenlaternen und tauchte alles in eine surreale ruhige Atmosphäre. Es war beruhigend, ohne mulmiges Gefühl durch die Straßen zu schlendern – ein Privileg der Sicherheit, das dieses Land noch faszinierender macht.

Ohne Zug, aber nicht ohne Ziel
Mein nächtlicher Spaziergang führte mich nach Tsukiji, zum berühmten 24-Stunden-Sushi-Restaurant Sushizanmai. Hier, an einem Ort, der wirklich niemals schläft, war ich Augenzeugin der Kunstfertigkeit eines Sushi-Meisters, der mit präzisen Bewegungen die Zutaten in kleine Köstlichkeiten verwandelte. Im ganzen Land lassen sich Restaurants wie dieses finden, die auch zu unüblichen Stunden hungrige Gäste empfangen. Neben mir saß eine Gruppe junger Leute, die von ihrer letzten Nacht in einer der zahlreichen Spielhallen in Akihabara erzählten, einem Ort, an dem Spieleautomaten und Virtual-Reality-Abenteuer die Nacht beherrschen. Ich erinnerte mich beim Zuhören an meine Zeit in Ōsaka und das Round1: ein 24-Stunden-Sportzentrum, das Filialen im ganzen Land hat und eine völlig andere Atmosphäre als das typische Nachtleben rund um Alkohol bietet. Hier können Besucher auch um drei Uhr morgens mit Freunden Basketball und Baseball spielen, ausgelassen auf Trampolinen springen oder bei einer Runde Karaoke die Welt vergessen. Die Begeisterung ist ansteckend und lässt Müdigkeit keine Chance.

Trotz all der Lebendigkeit und Faszination, die Japan bei Nacht bietet, gibt es auch praktische Herausforderungen: Nach Mitternacht ist der Zugbetrieb eingestellt, was bedeutet, dass man entweder die Nacht durchmachen, auf ein Taxi zurückgreifen oder zu Fuß weiter muss. Ich entschied mich für letzteres und begab mich auf den Weg nach Asakusa. Wer Hunger bekommt, macht unterwegs Halt an einem der unzähligen Convenience Stores (Konbini) – wahre Lebensretter für die schnelle Stärkung. Rund um die Uhr geöffnet, bieten sie eine beeindruckende Auswahl an Mahlzeiten, Snacks und Getränken. Bequemlichkeit trifft hier auf kulinarische Vielfalt.

Entspannung zum Sonnenaufgang

In Asakusa angekommen, tauchte ich in eine fast unwirkliche Szene ein: Der Sensō-ji-Tempel schimmerte im roten Licht der Laternen, als wäre er einem Gemälde entsprungen. Die Nakamise-Einkaufsstraße, tagsüber ein lebendiges Treiben aus Stimmen und Bewegung, normalerweise von Touristen überflutet, war jetzt still. Es ist ein seltener Moment, an einem so ikonischen Ort fast allein zu sein und die Harmonie zwischen den Tempelanlagen und der glitzernden Skyline zu erleben. Wer auf der Suche nach Mystik ist, sollte einmal einen der unzähligen Tempel oder Schreine bei Nacht besuchen. Die meisten sind nicht verschlossen. Nur zu später Stunde offenbart sich in Asakusa eine ganz besondere Kunstform: die „Shutter Art“ entlang der Gassen. Während die Läden tagsüber mit bunten Waren locken, zeigen sich nachts auf ihren Rollläden kunstvolle Illustrationen – humorvolle, nostalgische oder verspielte Bilder, die Geschichten vergangener Zeiten erzählen. Eine verborgene Galerie unter freiem Himmel, die zu normalen Zeiten versteckt bleibt und dem Viertel eine zusätzliche Dimension verleiht.

Doch was könnte der perfekte Abschluss einer Nacht in Japan sein? Ein entspannendes Bad in einer heißen Quelle! Viele Badehäuser und Unterkünfte bieten Nachtbaden an, so zum Glück auch mein Hotel. Der Rückweg wurde mit dem Taxi bewältigt und so flog die Stadt mit ihren bunten Lichtern am Fenster vorbei, während Musik aus dem Radio tönte und der Taxifahrer mir erzählte, warum er deutsche Autos so liebe. Während andere ihre morgendliche Routine begannen, driftete ich in den Schlaf und bereute meine nächtlichen Wanderungen nicht.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der JAPANDIGEST April 2025-Ausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
Kommentare