In den Bergen Kitayamas nördlich der alten Kaiserstadt Kyōto spielt sich Sonderbares ab. Aus einem knorrigen Zedernbaum ragt etwas heraus, das auf den ersten Blick wie zahlreiche Kerzen wirkt, die sich gen Himmel strecken. Dabei handelt es sich jedoch um Äste, die gerade in die Höhe wachsen. Diese im 15. Jahrhundert entstandene Technik nennt sich Daisugi (台杉). Sugi bezeichnet die Japanische Zeder (im Deutschen auch „Sicheltanne“ genannt) und dai bedeutet soviel wie „Plattform“. Der Name erklärt schon ungefähr, welchem Prinzip diese Methode folgt: Eine Zeder dient als Mutterbaum, der so beschnitten wird, dass er eine Art Plattform bildet, auf der die nachkommenden Äste wie junge Bäume nach oben wachsen.

Was erst einmal seltsam klingt, ist eine ausgeklügelte Technik, die man ursprünglich erfand, um der steigenden Nachfrage nach Zedernholz nachzukommen, die während der Muromachi-Zeit (ca. 1336-1573) aufkam1. Da zu wenig Forstfläche vorhanden war und zudem Setzlinge knapp waren, musste eine Möglichkeit gefunden werden, aus einem einzigen Baum möglichst viel Zedernholz zu gewinnen. Es heißt, dass der Teemeister Sen no Rikyū, der die Entwicklung der Teezeremonie in Japan maßgeblich prägte, im 16. Jahrhundert die Perfektionierung des Zedernholzes vorantrieb, um es als Baumaterial für Teehäuser einzusetzen. Die Zedern aus Kitayama sind dafür besonders gut geeignet, da sie einen geraden Wuchs und sehr glattes Holz aufweisen.

Die Daisugi-Technik
Daisugi ist eine aufwendige, doch lohnenswerte Prozedur. Aus den Ästen des Mutterbaumes wachsen junge Sprösslinge in die Höhe, die nach fünf bis sechs Jahren zum ersten Mal beschnitten werden. Dabei werden jeweils die unteren Äste abgeschnitten und nur wenige obere Äste an der Baumspitze belassen. Anschließend müssen alle zwei Jahre nachwachsende Keimlinge vorsichtig entfernt werden, da sonst zu viele Äste hinzukommen, die den Mutterbaum belasten. Sobald die jungen Zedernäste die gewünschte Dicke erreicht haben, werden sie gefällt, während neue nachgezüchtet werden. Dieser Vorgang wird über einen Zeitraum von 100 bis 200 Jahren mehrmals wiederholt. Erst nach 200 bis 300 Jahren beginnt der Stamm des Mutterbaumes an Kraft zu verlieren und hat somit seinen Dienst getan.
Daisugi als nachhaltige Forstmethode
Das Holz der Kitayama-Zedern wird in der heutigen Zeit nicht nur für Essstäbchen gebraucht, sondern auch als hochwertiger Baustoff eingesetzt. Weitere Endprodukte sind Möbel, Geländer und Jalousien. Doch gibt es auch einen Nutzen der Daisugi-Technik im Kampf gegen die globale Erderwärmung? Weltweit fallen durchschnittlich mindestens 14 Millionen Hektar Wald pro Jahr der Rodung zum Opfer, besonders stark betroffen sind die Tropen und Subtropen. Dabei werden große Mengen Kohlendioxid freigesetzt, was wiederum die globale Erwärmung vorantreibt.2 Die Daisugi-Technik ermöglicht es, Holz zu gewinnen, ohne dabei einen ganzen Wald zu opfern. Nachdem der Mutterbaum seine Aufgabe erfüllt hat, lebt er nämlich weiter.

Daisugi ist daher nicht nur eine effektive, sondern auch nachhaltige Methode, denn dank ihr kann der Wald als Lebensgrundlage für Mensch und Tier erhalten bleiben. Wälder haben entscheidenden Einfluss auf das weltweite Klima: Sie speichern etwa die Hälfte des auf der Erde vorkommenden Kohlenstoffes und wandeln Sonnenenergie in Wasserdampf um, der wiederum einen kühlenden Effekt auf die Atmosphäre hat. Sowohl im Alten Rom als auch in Großbritannien wandte man früher ähnliche Forstmethoden wie Daisugi an – im Zeichen des Klimaschutzes gewinnen diese alten Techniken immer mehr an Bedeutung und es ist großartig, dass sie in Japan nicht in Vergessenheit geraten sind.
[1] Kyoto Kitayama Maruta Cooperative Association (2014): Kyoto Kitayama Maruta, Kitayama Sugi. PDF: https://www.kyotokitayamamaruta.com/en/ [Abgerufen am 01.12.2021]
[2] WWF (2021): https://www.wwf.de/themen-projekte/waelder [Abgerufen am 18.01.2021]
Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST April 2022-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.
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