Filmkritik: „Nobody Knows” von Koreeda Hirokazu

Paul Dinter
Paul Dinter

Zurückgelassen in Tōkyō müssen vier Geschwister lernen, alleine in der Großstadt zu überleben. „Nobody Knows” öffnete nicht nur weltweit die Augen für Koreeda Hirokazus einzigartiges Talent, sondern warf Licht auf ein vergessenes Problem Japans und einen echten Fall, der 1998 weltweit Schlagzeilen machte.

Skyline der Stadt Tōkyō. © Unsplash / Matt Palmer

Am 17. Juli 1998, nachdem der Vermieter sie alarmiert hatte, betraten Beamte des Stadtteils Sugamo ein Apartment und fanden dort drei unterernährte Kinder und die Leiche eines weiteren. Nachdem der Fall in den Nachrichten bekannt wurde, stellte sich die Mutter von insgesamt fünf Kindern der Polizei und gab zu, dass sie die Kinder im Herbst 1987, aufgrund einer Affäre, verlassen habe. Sie gab dem ältesten Sohn 50.000 Yen (circa 300 Euro damals) und übertrug ihm die Verantwortung für seine Geschwister.

Der Fall wurde offiziell unter dem Namen 巣鴨子供置き去り事件 (Sugamo Kodomo Okizari Jiken) bekannt und sorgte sogar international für Aufmerksamkeit. Koreeda war durch den Fall stark inspiriert und beschloss, einen Film auf dessen Basis zu entwickeln. Er entschied sich jedoch dafür, nur das Setting zu übernehmen und sich auf die emotionalen Konflikte der Kinder zu fokussieren.

Filmkritik: „PERFECT DAYS“ von Wim WendersDer deutsche Regisseur Wim Wenders präsentiert mit „PERFECT DAYS“ eine berührende Liebeserklärung an Tōkyō, die von Japan für den Auslands-O...21.12.2023

Handlung

Der Film dreht sich um den zwölfjährigen Akira, den ältesten Bruder der Familie, und seine drei Geschwister: Kyoko, Shigeru und Yuki, welche alle von verschiedenen Vätern stammen. Von Anfang an wird deutlich, dass etwas nicht stimmt: Beim Einzug in die Wohnung werden die beiden jüngeren Geschwister in Koffern ins Apartment geschmuggelt, während die ältere Schwester Kyoko sich den strikten Vermietern als Cousine vorstellt, die nur zu Besuch ist. Zudem dürfen die Kinder das Apartment nicht verlassen; ihr einziger Blick auf die Außenwelt erfolgt über den Balkon.

© Unsplash / Francisco Suarez

Die Mutter fehlt häufig den ganzen Tag und kehrt oft erst spät zurück. Ihre Versäumnisse „begleicht“ sie mit Geschenken für die Kinder, doch Akira ist alt genug, um zu erkennen, was wirklich passiert, und ahnt, dass seine Mutter sie im Stich lassen wird. Und so geschieht es: Eines Tages kehrt die Mutter nicht zurück. Ohne sich zu verabschieden oder den Kindern zu erklären, was nun passieren wird, verschwindet sie und lässt ihre vier Kinder allein in einer kleinen Wohnung mitten in der größten Stadt der Welt.

Der Rest des Films widmet sich dem Schicksal der verlassenen Geschwister und ihren Bedürfnissen. Während die Jüngeren noch zu unschuldig und unwissend sind, um die Lage vollständig zu verstehen, stecken die beiden älteren Geschwister zwischen ihren Träumen und Verantwortlichkeiten fest. Akira sehnt sich nach Freunden und würde am liebsten, wie jeder normale Junge seines Alters, zur Schule gehen und danach Zeit mit Gleichaltrigen verbringen. Doch seine Situation verhindert dies. Er muss nicht nur emotional für seine Geschwister sorgen, sondern auch die finanzielle Verantwortung für die Familie übernehmen. Alle Aufgaben, die normalerweise Eltern obliegen, liegen nun auf den Schultern eines zwölfjährigen Jungen, der alles andere als erwachsen sein möchte.

Hinter den Szenen

Um den Film so authentisch wie möglich zu gestalten, entschied sich Koreeda, vier unerfahrene Schauspieler für die Rollen der Geschwister zu engagieren, und passte das Drehbuch, an dem er insgesamt fünfzehn Jahre gearbeitet hatte, an die Gewohnheiten der Kinder an: So änderte er beispielsweise die Marke der Lieblingssüßigkeiten der jüngeren Schwester und übernahm die quietschenden Sandalen, die ein Mädchen beim Casting trug.

Nicht nur das Drehbuch, auch die Dreharbeiten selbst waren außergewöhnlich. Um ein realistisches Gefühl zu erzeugen, wurde für die Produktion ein ganzes Apartment in einem Wohnkomplex gemietet, und jeder Raum wurde einzeln für den Film gestaltet. Insgesamt dauerte der Dreh ein Jahr, in dem Koreeda versuchte, eine persönliche Bindung zu den jungen Schauspielern aufzubauen. Er ließ ihnen Freiraum beim Spielen der Rollen und gab nur minimale Anweisungen – denn wer weiß besser, wie man ein Kind spielt, als Kinder selbst?

Genauso unkonventionell wie die Regieanweisungen sind auch die Kameraeinstellungen und der Schnitt des Films. Oft steht oder sitzt die Kamera mitten im Raum und beobachtet die Kinder einfach. So erhalten wir als Zuschauer die Möglichkeit, die Kinder in ihrer natürlichen Umgebung zu erleben.

Nobody Knows? – Fazit

Wortwörtlich genommen ergibt der Name des Films Nobody Knows – Niemand weiß es eigentlich keinen Sinn, denn jede Person, die die Geschwister in ihren schmutzigen T-Shirts und durchlöcherten Hosen sieht, weiß sofort, was los ist. Gleichzeitig will es aber niemand zugeben. Niemand möchte sie sehen oder das Problem ansprechen. Hier zeigt sich Koreedas schriftstellerische Meisterschaft: Er macht eine Kritik an einem größeren gesellschaftlichen Problem, das weit über einen einzelnen Fall hinausgeht – ein Problem, das in Japan seit langer Zeit ignoriert wird.

So grausam und traurig der Film auch wirken mag, er ist nicht hoffnungslos. Selbst inmitten einer gleichgültigen Gesellschaft gibt es Menschen, die den Geschwistern helfen, wie etwa der junge Supermarktmitarbeiter, der ihnen Lebensmittelreste schenkt, die sie sich sonst niemals hätten leisten können. Dies ist Koreedas Botschaft an die japanische Gesellschaft: Armut verschwindet nicht, indem man wegschaut. Das Problem kann nur gelöst werden, wenn wir hinsehen und handeln.

Unbekannter Obdachloser sitzt im Bahnhof Osaka in Osaka, Japan.Obdachlosigkeit: Japans Nimbus und reale HerausforderungenEine Reise nach Japan bedeutet für viele Tourist:innen einen Aufbruch in eine fremde Welt. Großstädte verkaufen mit schillernden Lichtern ei...28.05.2024

 

Kommentare

Diese Woche meistgelesen

Top Stories

Autoren gesucht

Lesen Sie hier, wie Sie Teil unseres Teams werden!