Das japanische Konzept Ma 間: Stille, Leere, Bedeutung

Zehra Sagra
Zehra Sagra

Ma ist, wenn die Leere den Raum füllt. Das klingt zunächst widersprüchlich, ist aber ein zentrales Konzept der japanischen Ästhetik. Für Hayao Miyazaki bildet es die Grundessenz seiner Studio-Ghibli-Filme.

Arashiyama Yusai-Tei Gallerie, Kyōto. © Zehra Sagra

Ma ist ein japanisches religiös-ästhetisches Konzept, das tief in der Kunst und Kultur Japans verwurzelt ist. Es beschreibt Raum und Zeit auf besondere Weise. Das Wort ist schwer übersetzbar, bedeutet im Grunde jedoch ein „Intervall“, durch das die Idee eines Zwischenraums und einer Zwischenzeit entsteht. Das Nichts wird als beabsichtigte Lücke, Öffnung oder Pause verstanden, die so gestaltet ist, dass sie eine wichtige Bedeutung trägt. In der Architektur bezeichnet man das Zimmer als ma, da es sich auf den Raum zwischen den Wänden bezieht. In Musik und Theater wiederum beschreibt ma die zeitlichen Intervalle – die Pausen zwischen den Noten, Tönen oder Bewegungen. Diese Pausen sind nicht leer, sondern erfüllt von Spannung, Erwartung und Ruhe.

Ma in der Architektur

Das Schriftzeichen für ma (間) setzt sich aus den Elementen „Tor“ und dem inneren, kleinen Teil „Sonne/Mond“ zusammen. Es entsteht das visuelle Bild einer Sonne oder eines Mondes, der im richtigen Moment durch das Tor oder die Öffnung scheint. Im architektonischen Kontext bezieht sich ma auf den zweckmäßigen und bedeutungsvollen Leerraum oder das Intervall zwischen Elementen. Der Grundriss wird bewusst so gestaltet, dass er leeren Raum umfasst – einen Raum, der jedoch als aktives Element verstanden wird. Diese Leere soll Ausgewogenheit, Ruhe und ein Gefühl von Möglichkeit und Tiefe erzeugen. Ma ist ein wesentlicher Bestandteil des traditionellen japanischen Designs und prägt die ästhetische Wahrnehmung von Leere, Licht und Schatten in Räumen.

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Das traditionelle Teehaus ist ein deutliches Beispiel für ma in der architektonischen Gestaltung. Es enthält keine Ziergegenstände oder Ornamente; allein die tragenden Wände bilden die Grundlage des Lebensraums. Die Leere des Innenraums lenkt die Aufmerksamkeit auf das Vergängliche – auf die Begegnung von Menschen und Gegenständen, die nur für einen Moment zusammenkommen.

Ma in Ghibli

Ohngesicht aus Chihiros Reise ins Zauberland als Fotospot im Shinsaibashi Parco in Ōsaka. © Zehra Sagra

Die tiefe Wirkung von Stille ist besonders in vielen Studio-Ghibli-Filmen von Drehbuchautor und Regisseur Hayao Miyazaki spürbar – einem Meister der Kunst des ma. In seinen Werken finden sich oft Szenen, in denen die Figuren sich nicht von der Handlung leiten lassen, sondern einfach in einer bestimmten, meist von der Natur umgebenen Szenerie stehen oder sitzen und die Umgebung auf sich wirken lassen. Dieses Intervall gibt sowohl den Charakteren als auch dem Publikum die Möglichkeit, über die bisherigen Geschehnisse nachzudenken oder die Schönheit der animierten Landschaften zu genießen. In einer ikonischen Szene aus Chihiros Reise ins Zauberland, dem wohl bekanntesten Film von Studio Ghibli, zeigt eine längere Sequenz nichts weiter als eine Zugfahrt. Die zwei Minuten völliger Stille ohne begleitende Dialoge machen den Zuschauer mit der fiktiven Welt vertraut. Diese beabsichtigte Pause erlaubt es uns, das zu sehen und zu fühlen, was die Figur in diesem Moment sieht und fühlt. Ma befasst sich also mit dem Teil der Geschichte, der nicht erzählt wird – und doch weckt gerade dieses Unausgesprochene oft tiefere Emotionen und ein stärkeres Gefühl der Teilhabe an der Welt der Figuren, als es eine explizite Erzählung könnte.

Ma in den traditionellen Künsten

Das Nō-Theater gilt als höchste künstlerische Ausdrucksform von ma, da es alle Aspekte in einer einzigen, raffinierten Darbietung vereint. Senu tokoro ga omoshiroki ist ein Ausdruck, den die Japaner verwenden, um das Nō-Theater zu beschreiben. Er bedeutet, dass das, was der Schauspieler nicht tut, interessant ist. Zeami Motokiyo (1363–1443), einer der einflussreichsten Theoretiker und Dramatiker des Nō-Theaters, sagte, dass die Momente der „Untätigkeit“ gerade deshalb faszinieren, weil ihnen die spirituelle Kraft (kokoro) des Darstellers zugrunde liegt, die die Aufmerksamkeit ununterbrochen auf sich zieht. Nō verkörpert damit das dynamische Gleichgewicht zwischen Objekt und Raum, Aktion und Inaktion, Klang und Stille, Bewegung und Ruhe.

Auch in der Kunst des Ikebana ist der Raum ein wesentlicher Bestandteil. Oft sogar der Mittelpunkt eines Arrangements. Er wird als „unsichtbare Energie“ betrachtet, die der Form Leben verleiht. Bei der Sumi-e-Pinselmalerei werden große Flächen bewusst unbemalt gelassen. Die Dimension der Zeit ist entscheidend für die Würdigung von Sumi-e-Kunstwerken: Die Spuren der Bewegung und die Geschwindigkeit des Pinsels werden als Ausdruck des Rhythmus in der Zeit geschätzt. Der weite, leere Raum verstärkt die Energie, die in jedem Pinselstrich steckt.

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