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Der merkwürdige Fall des Carlos Ghosn

Matthias Reich
Matthias Reich

Die Meldung kam wie ein Paukenschlag: Carlos Ghosn, der charismatische Nissan-Chef, wird angeklagt, seiner Ämter enthoben und festgenommen. Was steckt hinter dem Skandal, wer ist Ghosn und wie geht es weiter? Ein Wirtschaftskrimi wie aus dem Bilderbuch nimmt seinen Lauf.

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Japanische Zeitungsartikel nach Ghosns Verhaftung 2018. © Rodrigo Reyes Marin/Zuma Press/PA Images

Fragt man Japaner nach dem bekanntesten ausländischen Manager in Japan, so wird die Antwort fast immer „Carlos Ghosn“ lauten. Der kosmopolitische Wirtschaftsboss mit französischen, libanesischen und brasilianischen Wurzeln war seit 1999 Chef von Nissan; selbiger Autohersteller war zu jener Zeit kurz vor dem Ende: Nur 3 von 46 Modellen waren profitabel, die Firma versank in Schulden und stand kurz vor dem Bankrott. Der französische Autohersteller Renault nutzte die Gunst der Stunde und erwarb mehr als ein Drittel von Nissan, um somit eine französisch-japanische Firmenallianz einzugehen. Mit Ghosn schickte Renault einen kampferprobten Firmensanierer, er war damals bereits Vizepräsident des Unternehmens. Ghosn kam, sah und lieferte, doch beliebt machte er sich nicht: 21.000 Arbeitsstellen, fast ein Siebentel der gesamten Nissan-Belegschaft, fielen weg – durchaus ein Schock für Japan, wo das Prinzip der lebenslangen Anstellung noch immer in den Köpfen herrscht und eine Stelle in einem börsennotierten Unternehmen als die ultimative Altersvorsorge gilt.

Die knallharten Sanierungsmaßnahmen trugen jedoch alsbald Früchte – ohne Ghosn wäre womöglich der gesamte Konzern Pleite gegangen. Doch am 19. November 2018 wurde Ghosn urplötzlich bei der Wiedereinreise in Japan verhaftet, just in dem Moment, als er aus seinem Privatjet stieg. Und nicht nur Ghosn, sondern auch Greg Kelly, ein weiterer, amerikanischer Topmanager bei Nissan und die linke Hand des Chefs, wurde am gleichen Tag bei der Wiedereinreise am Flughafen verhaftet. Nissan-CEO Saikawa Hiroto gab noch am selben Tag bekannt, dass Ghosn und Kelly gefeuert seien – eine interne Überprüfung habe nämlich ergeben, dass es massive Unstimmigkeiten in den Büchern gebe. Konkret wirft man vor allem Ghosn vor, dass er seine Einkünfte inkorrekt angegeben sowie Firmengelder und -güter für den Privatgebrauch missbraucht hätte. Die Schadenssumme wurde mit 18 Millionen US-Dollar angegeben. Kelly sei ihm dabei behilflich gewesen und damit Mittäter. Und Nissan blieb nicht faul: Man ließ umgehend und sehr zum Leidwesen der Familienangehörigen von Ghosn die Schlösser in dessen Residenzen in Beirut, Rio de Janeiro und anderswo austauschen.

Angeblich kam der Tipp, der zur Verhaftung der beiden Manager führte, von einem Whistleblower innerhalb des Unternehmens, und angeblich ist jene Person selbst ebenfalls ein Ausländer, der sich so eine erst kürzlich in Japan eingeführte Kronzeugenregelung zu Nutzen machen möchte. Ghosn wurde indes in das größte Gefängnis von Tōkyō gebracht. Bei einer ersten Anhörung beteuerte er, nichts Illegales getan zu haben; dem Konzern seien keinerlei Schäden entstanden und alles sei rechtens gewesen. Eine Verhandlung zur Freilassung auf Kaution schien zuerst Erfolg zu haben, doch dann tauchten neue Vorwürfe und damit ein neuer Haftbefehl auf. Und hier nahm der Krimi seinen Lauf: Beschuldigte dürfen bis zum Verfahrensbeginn 23 Tage in Untersuchungshaft genommen werden. Kurz vor dem Ende der Frist tauchten neue Vorwürfe auf, die die U-Haft um 20 Tage verlängern können. Kaum war das Ende dieser Frist abgelaufen, gab es erneute Vorwürfe von Nissan. Wieder wurde die Freilassung auf Kaution von der Staatsanwaltschaft abgewiesen, da man von einer realen Fluchtgefahr ausging. Und so sitzt Ghosn noch immer ein – und der Prozess hat noch nicht einmal begonnen. Das führte bereits zu ersten Protesten aus dem Ausland, insbesondere aus Frankreich.

Im Fall Ghosn gibt es etliche Ungereimtheiten. Da wäre oben erwähnte Salamitaktik des Unternehmens, das immer wieder neue Vorwürfe ans Licht bringt. Da wäre Saikawas Pressekonferenz am Tag der Verhaftung, bei der er Ghosn mit scharfen Worten angriff und feuerte. Bewiesen war zu dem Zeitpunkt nämlich gar nichts. Nissan und die Staatsanwaltschaft haben zudem noch keine eindeutigen Beweise vorgelegt, während Ghosn noch immer seine Unschuld beteuert. Das Erschreckende an der japanischen Justiz, Teilen der Medien und dem Hause Nissan ist dabei, dass die Unschuldsvermutung vollständig ignoriert wird – Ghosn wurde bereits ohne Schuldspruch verurteilt. Zu guter Letzt muss man natürlich auch nach den Motiven fragen. Ghosn ist ein hochintelligenter, sehr gut organisierter Spitzenmanager. Welches Motiv könnte er haben, sein eigenes Lebenswerk und seinen Ruf mutwillig zu zerstören? Da fallen nur Gier oder Allmachtsfantasien ein.

Das i-Tüpfelchen in dem Fall bildet die Anklage von Takeda, Vorsitzender des Japanischen Olympischen Komitees, seitens der französischen Justiz. Der Vorwurf lautet auf Bestechung und etliche Medien vermuten hinter der Anklage eine Revanche, ähnlich dem Hickhack um die Huawei-Tochter zwischen Kanada und China. Aber das gehört sicher eher ins Reich der Fantasien und Verschwörungstheorien.

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