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Der stille Schrei der Stars: Psychische Belastung und Suizid unter japanischen Idols

Shoko Bethke
Shoko Bethke

Im September 2020 häufte sich die Zahl von japanischen Prominenten, die sich das Leben nahmen. Die Öffentlichkeit ist entsetzt und sucht überall nach einer Erklärung. Dabei liegt die Ursache vielleicht gar nicht weit entfernt.

Zusammengekauertes Mädchen

Am 18. Juli 2020 erregte die Nachricht über den Tod des Filmstars Miura Haruma japanweit großes Aufsehen. Der junge Schauspieler und Sänger, der unter anderem für Filme und Serien wie „Koizora“ oder „Bloody Monday“ bekannt war, starb im Alter von 30 Jahren durch Suizid. Im September folgten darauf weitere Suizide, alle begangen von Prominenten, die hauptsächlich als Schauspieler*innen tätig waren: Ashina Sei am 14., Fujiki Takashi am 20., und Takeuchi Yūko am 27. September. Die Reihe an Suiziden traf allerdings nicht nur Schauspieler*innen. Am 23. Mai dieses Jahres nahm sich die Profi-Wrestlerin Kimura Hana, auch bekannt durch die Serie „Terrace House“, im Alter von 22 Jahren das Leben.

Jedes Mal ist die japanische Presse zu Recht erschüttert über den Tod eines talentierten Stars. Gleichzeitig gräbt sie wie wild im Privatleben der Betroffenen und Angehörigen herum, um nach „legitimen“ Gründen für den Suizid zu suchen.

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Die Verantwortung der Medien

Bevor tiefer auf die Thematik eingegangen wird, sollte zunächst die Art und Weise der Berichterstattung dieser Medien unter die Lupe genommen werden. In einem Gespräch des Deutschlandfunks zwischen Stefan Fries und Thomas Niederkrotenthaler wurde kritisiert, wie einige Medien (nationenübergreifend) mit der Thematik Suizid umgehen. [1] Medien müssen stets damit rechnen, dass es Menschen gibt, die von einer Berichterstattung „getriggert“ werden. Wenn ein Nachrichtenportal also detailliert beschreibt, welche Methode zum Suizid ausgewählt wurde, kann es passieren, dass suizidale Menschen diese Methodik nachahmen (man spricht hierbei vom sog. Werther-Effekt, benannt nach der gleichnamigen Romanfigur aus Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ [1774]). Insbesondere in Zeiten häuslicher und sozialer Isolation sollte bei der Formulierung solcher Nachrichten besondere Vorsicht geboten sein. Anstatt also die Art und Weise von Suiziden in den Medien offenzulegen, sollte vielmehr deren Ursachen auf die Spur gegangen werden, wie z.B. der Struktur der japanischen Entertainment-Industrie.

Der Journalist Shibui Tetsuya erklärt, dass die japanische Unterhaltungsindustrie nach außen hin sehr glamourös wirke, aber für die betroffenen „Idols“ (vom eng. „idol“, auf Japanisch aidoru genannt) die psychische Instabilität und der Druck steige. Shibui betont, dass er „sich Sorgen macht, ob sich Betroffene Zeit für sich selbst nehmen können. Außerdem bekommen japanische Schauspieler*innen, im Vergleich zur amerikanischen Filmindustrie, nach einem Dreh nicht das Angebot einer professionellen psychologischen Beratung. Es ist notwendig, die SOS-Zeichen der Schauspieler*innen frühzeitig zu erkennen und sich um sie zu kümmern.“ [2]

Häufig senden die Stars durchaus solche Signale an die Öffentlichkeit, diese werden jedoch in den meisten Fällen ignoriert. Miura Haruma beispielsweise hatte schon vor Jahren geäußert, dass er aus der Industrie aussteigen möchte. In Kimura Hanas Fall standen die Produzent*innen nicht hinter ihr, als sie zum Opfer von Cyber-Mobbing wurde. Das Idol Endō Yasuko beging 1989 im Alter von 17 Jahren Selbstmord, nachdem sie von ihrer Agentur dazu gezwungen worden war, sich von ihrem Freund zu trennen. [3] [4]

Der Hype um AKB48

Sehen wir uns ein anderes Beispiel an. Bei AKB48 handelt es sich um eine Idol-Gruppe junger Mädchen im Alter zwischen 11 und 29 Jahren, die meist in Schuluniformen gekleidet auftreten und die Öffentlichkeit bespaßen. Es sind nicht viele Vertragsregeln bekannt, da die meisten internen Inhalte nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Eine dieser Regeln aber lautet, dass die jungen Mädchen keine Liebesbeziehungen eingehen dürfen. [5] Der Grund ist simpel: Die Plattform Piped Bits untersuchte im August 2012 das Kaufverhalten der Fans von der 27. AKB Single-CD und stellte fest, dass 70 % der Konsumenten Männer waren. [6] Über 30 % dieser Männer waren zudem im Alter zwischen 30 bis 59 Jahren.

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Dieser Hype um die AKB-Mädchen wurde vom japanischen Soziologen Miyadai Shinji scharf kritisiert. [7] Er erklärte, dass es unter den Fans Männern gebe, die es auf die „Jungfräulichkeit dieser Sängerinnen“ abgesehen haben (shōjo-chū). Unter anderem müssen die Idols als „Fanservice“ hunderttausenden von Menschen die Hände schütteln (sog. akushukai). In Einzelfällen bekommen sie währenddessen Heiratsanträge oder werden zu Opfern von Stalking oder Körperverletzung. [8] Wenn die Idols Pflichten wie dem Fanservice nicht nachkommen oder ihrem eigenen Liebesleben nachgehen, ist die Illusion zerstört und das Unternehmen macht keinen Profit.

AKB-Mitglied Minegishi Minami wurde beispielsweise im Jahr 2013 von Paparazzi erwischt, als sie zu einem Übernachtungsdate fuhr. [9] Als Wiedergutmachung rasierte sie sich ihren Kopf kahl und gab weinend eine öffentliche Entschuldigung ab, dass dies nie wieder vorkommen werde. Sakaguchi Nagisa geriet 2017 in massive Kritik, als sie auf die Frage nach dem Alter ihres potenziellen Freundes mit Anfang 20 antwortete. [10] Einige Fans warfen Sakaguchi vor, dass sie nicht sensibel genug mit den Gefühlen der Fans, die durchaus Mitte 40 bis 50 sind, umgegangen sei. Es mag absurd klingen, doch die Fans sollen in der Illusion leben, dass eine ernsthafte Chance auf eine Beziehung mit einem dieser Mädchen bestehe.

Die Treffen zum Händeschütteln sind übrigens keine Seltenheit. Viele Idols werden von ihren Agenturen dazu ermuntert, sich aktiv mit den Fans auseinanderzusetzen und ihnen so viel Service wie möglich anzubieten. Aber wer denkt dabei an die betroffenen Stars?

Model vor Paparazzi
Keinen Moment der Ruhe: Filmstars und Berühmtheiten sind stets einer Horde von Paparazzi aufgeliefert. © Clem Onojeghuo / Unsplash

Was Hollywood besser macht

Einen ausschlaggebenden Grund für die Abhängigkeit der japanischen Idols fand der Autor Tazaki Kenta: Wenn diese nicht bereits von Geburt an mit der Film- und Medienindustrie aufgewachsen sind, werden sie für gewöhnlich auf der Straße gescoutet. Im Gegensatz zu westlichen Ländern kommt es weniger auf Können an als vielmehr auf gutes Aussehen. Sie erhalten Tanz- und Gesangsstunden auf Kosten des Unternehmens und werden durch das Marketing der Firma an die Öffentlichkeit verkauft. Der Erfolg eines Individuums hängt dementsprechend nicht nur vom eigenen Talent ab, sondern auch davon, wie viel Geld die Produktionsfirma in das einzelne Individuum steckt. Aus diesem Grund ist es für die Stars schwierig, ihren Vertrag zu kündigen, falls sie es sich anders überlegt haben. [11]

Nun könnte man behaupten, die Stars seien selbst schuld, schließlich hat sie niemand dazu gezwungen, Schauspieler*in oder Model zu werden. Allerdings ist es jede*m freigestellt, eine solches Jobangebot anzunehmen. Warum auch nicht? Es ist schließlich ein Beruf wie jeder andere. Doch dürfen dadurch grundlegende Menschenrechte nicht verletzt werden oder Idols gegen ihren Willen in Knebelverträgen festgehalten werden. Es gibt in der japanischen Medienindustrie sogar Verträge, in denen steht, dass die schriftliche Zustimmung der Agentur notwendig sei, um aus diesem auszutreten und so wirft man die Betroffenen in die Abhängigkeit. [12]

Idols werden für einen Hungerlohn zum Arbeiten bis zum Umfallen gedrillt [13], als Eigentum der Agentur betrachtet [14] und bei einer Vertragskündigung von der gesamten Industrie ausgegrenzt, sodass eine weitere, selbstständige Karriere unmöglich wird. Es gilt das Motto: „Die Agentur, die dich berühmt gemacht hat, darfst du nicht hintergehen.“

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Leben und leben lassen

Prominente haben genauso ein Recht auf Privatsphäre wie jede*r andere. Trotzdem wird ihnen dieses Recht in der heutigen Zeit, sei es durch Knebelverträge oder einer skandalgierigen Presse, häufig genommen. Es scheint nicht verwunderlich, wenn diese mangelnde Privatsphäre und fehlende Selbstbestimmung so manche in die Verzweiflung treibt. Hinzu kommt oft eine schlechte Bezahlung, wodurch schnell psychische Probleme entstehen können. Eine Chance auf Verbesserung kann es sicherlich nur geben, wenn die japanische Entertainment-Industrie ihre geltenden Prinzipien überdenkt und erneuert.


Wenn Sie depressiv sind oder suizidale Gedanken haben, können Sie sich telefonisch an die folgenden Hilfestellen wenden.

Info-Telefon Depression:

  • 0800 / 33 44 533
    • Mo, Di, Do: 13:00 – 17:00 Uhr
    • Mi, Fr: 08:30 – 12:30 Uhr

Telefonseelsorge:

  • 0800-111 0 111 / 0800-111 0 222
    • rund um die Uhr und kostenfrei

Verwendete Quellen:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/heikle-berichterstattung-wie-medien-suizide-verhindern.2907.de.html?dram:article_id=477672
[2] https://www3.nhk.or.jp/news/html/20200927/k10012636751000.html
[3] https://www.nikkan-gendai.com/articles/view/geino/279247
[4] https://bunshun.jp/articles/-/38865
[5] https://news.yahoo.co.jp/byline/itokazuko/20130202-00023308/
[6] https://www.pi-pe.co.jp/news/topics/516/
[7] https://news.biglobe.ne.jp/entertainment/0107/jc_130107_1319447054.html
[8] https://www.huffingtonpost.jp/2018/06/19/iwata-karen-stalking_a_23463207/
[9] https://news.yahoo.co.jp/byline/itokazuko/20130202-00023308/
[10] https://www.j-cast.com/2017/03/21293605.html?p=all
[11] https://gendai.ismedia.jp/articles/-/52309?page=4
[12] https://www.sankei.com/column/news/171126/clm1711260001-n1.html
[13] https://ironna.jp/theme/837
[14] https://ironna.jp/article/8195

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