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Florian Coulmas über Japans Gesellschaftswandel | Interview

Kerstin Coopmann
Kerstin Coopmann

Ob nun die Alterung der Gesellschaft, die Zunahme irregulärer Beschäftigungsverhältnisse oder die Individualisierung in der Bevölkerung: Japan ist geprägt von einem gesellschaftlichen Wandel, der mit einer Reihe an Herausforderungen einhergeht. Wir haben den Japanexperten Prof. Dr. Florian Coulmas dazu befragt.

verschwommene Menschenmasse in Tokyo

Im Rahmen Ihrer Forschung haben Sie sich intensiv mit der japanischen Gesellschaft auseinandergesetzt, insbesondere bei den Recherchen für „Die Gesellschaft Japans“. Was ist Ihnen dabei besonders aufgefallen?

Japan wurde ein halbes Jahrhundert später als westeuropäische Länder zu einer kapitalistischen Industriegesellschaft, vollzog diesen Schritt aber als erstes nicht-westliches Land. Diese historischen Umstände machen Japan für die Gesellschaftsanalyse interessant, da sie dazu einladen, mögliche Einflüsse kulturell geprägter Formen des Zusammenlebens auf diese Art des Wirtschaftens zu untersuchen. Manches wurde und wird in Japan anders gehandhabt als in westlichen Industrieländern. Es ist aber sehr schwierig, kulturelle Einflussfaktoren eindeutig zu identifizieren. Ein Beispiel: Noch bis in die 1970er und ‘80er Jahre galt die sogenannte Lebenszeitbeschäftigung als Merkmal des japanischen Kapitalismus. Heute betrachten wir die Seltenheit von Kündigungen damals eher als Charakteristikum einer Entwicklungsphase, denn seither hat der Anteil irregulärer Beschäftigungsverhältnisse stetig zugenommen und liegt in Japan nun bei ca. 40 Prozent. Das deutet darauf hin, dass der Einfluss kultureller Bedingungen – z.B. Vorstellungen von paternalistischer Fürsorge für die Lohnabhängigen – auf die Entwicklung des Wirtschaftssystems beschränkt ist. Die strukturellen Mechanismen des Kapitalismus können durch kulturelle Normen und Gewohnheiten allenfalls etwas abgefedert werden. Unabhängig von Ertrag und Auftragslage können auch japanische Firmen ihre Belegschaft nicht unbegrenzt halten.

Was hat sich seit der Veröffentlichung des Buchs 2007 verändert? Welche gesellschaftlichen Herausforderungen erwarten Japan im kommenden Jahrzehnt?

Etwas mehr als ein Jahrzehnt ist ein kurzer Zeitraum, um gesellschaftliche Entwicklungen zu erkennen. Noch deutlicher geworden, als es in den frühen 2000er Jahren schon war, ist vielleicht, dass Japan nicht mehr auf Aufholjagd ist. Für wichtige wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen bieten die westlichen Industrieländer, anders als in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, keine Orientierung mehr. Denn auf vielen Gebieten – Bildung, Pro-Kopf-Einkommen und insbesondere gesunde Lebenserwartung – hat Japan eine Spitzenposition erreicht. Wo die Entwicklung hingehen soll, muss daher von japanischen Politikern und Wirtschaftsführern entschieden werden, ohne dass ihnen der Blick über den Pazifik oder nach Europa dabei viel Inspiration liefert. In Japan ist die soziale Alterung am weitesten fortgeschritten und die Bevölkerung schrumpft seit über zehn Jahren. Sie wird sich mindestens bis Mitte des Jahrhunderts weiter drastisch verringern. Nur die Senioren werden immer mehr. Das zeugt von einer äußerst erfolgreichen Gesellschaft, ist aber gleichzeitig Japans größte Herausforderung auf Jahrzehnte.

Inwieweit haben sich die gesellschaftlichen Wertevorstellungen gewandelt? Welchen Einfluss hat dies auf die Gesamtentwicklung?

Zu nennen ist hier erstens das Verhältnis der Geschlechter. Das Brotverdiener-Hausfrau-Modell der geschlechtlichen Arbeitsteilung ist in einer Gesellschaft, in der Frauen im Schnitt einen höheren Bildungsabschluss haben als Männer, ein Auslaufmodell, zumindest theoretisch. In der Praxis bleibt noch viel zu tun, denn in Führungspositionen sind Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert. In der internationalen Rangordnung „Frauen im Parlament“ steht Japan auf Platz 164, und an der Regierung ist nur gelegentlich einmal eine Ministerin beteiligt.

Außerdem erwähnenswert ist das Senioritätsprinzip. Befördert wurde bis vor einigen Jahrzehnten vorwiegend nach Alter. Dementsprechend wurde älteren Menschen auch in der Familie und der Gesellschaft allgemein viel Respekt entgegengebracht. Dazu, dass das so sein soll, bekennen sich die meisten Japanerinnen und Japaner nach wie vor. Gerade kürzlich, am 16. September, war der Tag des Respekts vor dem Alter, der das zum Ausdruck bringt.

Wir beobachten indes, dass es inzwischen in manchen Firmen leistungsbezogene Beförderungen gibt. Besorgniserregender ist, dass alte Menschen nicht vor Misshandlung und/oder Vereinsamung sicher sind, was eine Begleiterscheinung der sozialen Alterung ist. Familien sind nicht mehr so strukturiert, dass sie alten Menschen überall einen beschützten und ungestörten Lebensabend bieten können.

Welche Rolle spielen Themen wie Einsamkeit und Individualismus?

Der demografische Wandel – viele Kinder ohne Geschwister –, der Individualismus, den der Rechtsstaat verlangt, und neue Technologien, die es ermöglichen, ohne direkten Kontakt zu anderen Menschen vielerlei Aufgaben zu erledigen und die dafür erforderliche Information einzuholen, sind die treibenden Kräfte, die hinter der voranschreitenden Vereinzelung stehen. Hier unterscheidet sich Japan von anderen avancierten Gesellschaften höchstens graduell.

Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit die Geburtenrate wieder steigt? Welche Chancen sehen Sie?

Wenn ich diese Frage beantworten könnte oder so täte, als könnte ich es, wäre ich Lobbyist oder Regierungsberater. Japan war eine Zeit lang Vorreiter auf diesem Gebiet, aber die niedrige Geburtenrate ist in fast allen hochentwickelten Industrieländern zu beobachten. Dafür gibt es vielerlei Erklärungen, die jedoch in der Summe kein einfaches Rezept für die Anhebung der Geburtenrate ergeben. Zudem sollte zunächst die Frage gestellt und beantwortet werden, ob und in wessen Interesse es wünschenswert ist, die Bevölkerungsdynamik entsprechend zu verändern.

Worin sehen Sie die größten Unterschiede zwischen der japanischen und deutschen Gesellschaft?

Der Wert, den man auf Umgangsformen legt, macht das Leben in Japan sehr angenehm.

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Prof. Dr. Florian Coulmas

Florian Coulmas (*1949 in Hamburg) ist Professor am Institut für Ostasienstudien an der Universität Duisburg- Essen. Zu seiner umfangreichen Berufserfahrung zählen u.a. eine Professur an der Chūō-Universität in Tōkyō (1987-1999) und die Rolle als Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien, ebenfalls in Tōkyō (2004-2014). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Gesellschaft und Soziolinguistik Japans. Coulmas ist Autor zahlreicher Bücher, Aufsätze und journalistischer Artikel.

Florian Coulmas
© Florian Coulmas

Dieser Artikel erschien in der Oktober-Ausgabe des JAPANDIGEST 2019 und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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