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Tawada Yōko: Schriftstellerin zwischen Wortwelten. Ein Interview

Hannah Janz
Hannah Janz

Wird sie die erste japanische Literatur-Nobelpreisträgerin? Mit ihren einzigartigen Texten zwischen dem Japanischen und Deutschen zeichnet Tawada Yōko Bilder moderner Menschen (und Eisbären) im Spiel der Fremdheit der Kulturen.

tawada yoko
Die Schriftstellerin Tawada Yōko im Gespräch mit Japan Digest.

Geboren 1960 in Tōkyō 東京, kam Tawada Yōko 多和田葉子1982 nach Hamburg, um Neuere deutsche Literaturwissenschaft zu studieren. 1987 erschien mit Nur da wo du bist da ist nichts eine erste Sammlung ihrer Gedichte und Prosa. Die folgenden regelmäßigen Veröffentlichungen beschäftigen sich auf den Sprachen Deutsch und Japanisch immer wieder mit dem Fremdheitsgefühl – des Ichs in einer anderen Kultur, des Ichs anderen Ichs gegenüber, des Ichs mit seiner ganz eigenen Sprache. Tawada lebt seit 2006 in Berlin und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Akutagawa-Preis 1993 und dem Kleist-Preis 2016. Diese untermauern die Bedeutung ihres Werkes als global gültig – und gleichzeitig molekularisiert.

nur da wo du bist
Im Erstling von 1987 verzahnen sich deutsch- und japanischsprachige Gedichte und Prosa.

Japan Digest interviewte Tawada Yōko im Juni 2016 nach einer Lesung in Düsseldorf. Das Pendant für den japanischsprachigen Doitsu News Digest wurde zuvor auf Japanisch geführt.

Japan Digest: Ihr kreativer Antrieb ist das Fremdheitsgefühl zwischen der japanischen und der deutschen Kultur. Gleichzeitig haben Sie mittlerweile über 30 Jahre literarische Routine. Wie schaffen Sie es, neugierig zu bleiben?

Tawada Yōko: Da muss ich mir überhaupt keine Mühe geben – Es gibt immer wieder neue Fremdheit. Im Moment denke ich über Dinge nach, über die ich mir in den 1980ern gar keine Gedanken gemacht habe oder die mir damals gar nicht fremd waren. Das heißt aber nicht, dass Japan mir vertraut ist und Deutschland fremd, sondern alle Kulturen, also die Menschen, sind mir fremd.

Japan Digest: Das beschreiben Sie in dem Text „Etüden im Schnee“ über Knut, den Berliner Eisbären. Er versucht zu erahnen, was die Menschen um ihn herum wollen, und darauf zu reagieren. Im Grunde muss sich jeder Mensch immer wieder den Kulturen, die ihn umgeben, annähern.

Tawada Yōko: Das denke ich auch. Es ist wie in der Relativitätstheorie. Das Licht bewegt sich und deshalb können wir die Geschwindigkeit des Lichtes nicht messen. Und wenn unser Standpunkt sich ändert und das Licht sich aber auch bewegt… Es kommt mir vor, als würden wir Kultur so betrachten, wie man aus einem fahrenden Zug heraus das Licht betrachtet.

Letzte Woche ist hier ein Buch erschienen, in dem auch ein Text von mir ist. Es geht um die nonverbale Kommunikation in Deutschland und Europa, wo man glaubt, dass die sprachliche Kommunikation sehr wichtig ist. Aber in Wirklichkeit ist auch die körperliche Kommunikation wichtig. Jede Bewegung von uns vermittelt etwas. Eine Gruppe kann sich verstehen ohne Worte, nur durch die Bewegung, und das ist in der Tanzkunst wichtig, aber auch für die Neurologie und die Soziologie. Ohne diese Kommunikation funktioniert die Gesellschaft nicht. Selbst wenn man etwas „durchdiskutiert“, wie man im Deutschen sagt.

In Japan gilt die nonverbale Kommunikation als selbstverständlich. In Japan musste ich deshalb aufpassen, dass die Leute mich nicht einverleiben durch diese Kommunikation. Es war wichtig für mich, die Chance zu haben, sprachlich zu sagen: Ich denke anders! Das finde ich sehr schwierig in Japan.

Das Wort Harmonie wird ja sehr gerne benutzt, um die japanische Gesellschaft zu skizzieren. Dieses System läuft hinter der Sprache und vieles funktioniert auf diese Weise reibungslos. Das muss aber nicht heißen, dass der einzelne sich wohlfühlt. Ich bin gestern von Berlin nach Düsseldorf gefahren, und am Berliner Hauptbahnhof funktionieren Fahrstühle und Fahrkartenautomaten nicht, die Züge haben Verspätung. In Japan hat man gar nicht die Möglichkeit, der nonverbalen Kommunikation zu entkommen. Es gibt keine Möglichkeit laut zu sagen: Ich habe den Fahrstuhl kaputtgemacht, aber keine Lust, ihn zu reparieren.

etueden im schnee
2011 erzählt Tawada die Geschichte dreier Eisbären-Generationen - bis hin zu Knut, dem Berliner Liebling.

Jede Kultur kennt sprachliche und körperliche Kommunikation. Sie treten zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Gewicht auf. Deshalb möchte ich diesen Kontrast gar nicht aufmachen: Hier Deutschland und da Japan. Wir beobachten gleiches mit unterschiedlichen Färbungen und Wichtigkeit, das finde ich spannend. Fremd und Nicht-Fremd sind wir gleichzeitig, in allen Gesellschaften.

Japan Digest: In Deutschland hält sich das Klischee, Japaner würden wegen der Wahrung der Harmonie nicht über politische Themen sprechen. Wie sehen Sie die politische Sprache in Japan?

Tawada Yōko: Die Japaner sind da weniger geschult als die Deutschen. In der Schule lernen wir zum Beispiel nicht, über die Politik zu diskutieren, wie es hier üblich ist. Es ist sehr schade, dass das nicht zum Curriculum gehört.

Aber viele Japaner machen sich im Moment Gedanken und auch Sorgen um die japanische Politik, zum Beispiel über die Kernkraft. In Deutschland war die Reaktion nach Fukushima 福島 sehr schnell, besonders in der Presse. Das hatte auch sofort Auswirkung auf die Politik. Aber gleichzeitig vergisst man in Deutschland schnell wieder, denn es tauchen immer wieder neue Weltprobleme auf, durch Deutschlands Lage mitten in Europa. Jedes Thema wird schnell abgehakt.

In Japan war die Reaktion wiederum sehr langsam. Zuerst wurde nicht über das Problem gesprochen, aber als immer mehr Leute Angst bekamen, sind sie auch zu Demonstrationen gegangen. Das wurde in der japanischen Presse aber kaum gezeigt. Jetzt erst wird klar, wieviele Leute demonstrieren – mehr als in Deutschland. Außerdem sind alle AKW bis auf eines in Japan vom Netz. Das ist eine stille Leistung Japans. In Deutschland wiederum ist man sich zwar einig, dass die AKW abgeschaltet werden sollen, aber sie sind ja noch tätig – und ganz ehrlich gesagt ist es nicht sicher, ob sie abgeschaltet werden. Die Realität ist: In Japan sind die AKW zurzeit mehr abgeschaltet als in Deutschland.

In Deutschland gibt es mehr Demokratie. Japan muss vielleicht eine eigene Form der Demokratie entwickeln. Die Leute sind einfach anders, das liegt an der Geschichte. Man reagiert nicht schnell. Bei großen Naturkatastrophen, die es in Japan oft gab, war es günstiger, nicht in Panik zu geraten oder laut zu werden, sondern stillschweigend Ruhe zu bewahren, die Geduld nicht zu verlieren und langsam alles wieder aufzubauen. So haben sie überlebt und so reagieren sie heute noch.

ueberseezungen
Wortspiele nehmen eine große Rolle in Tawadas Werk ein (hier "Überseezungen" von 2002).

Japan Digest: Sie hatten bereits fuankan erwähnt, Angst oder Unsicherheit als Antrieb, Dinge zu verändern. Welche Kraft kann fuankan zur Zeit in der japanischen Gesellschaft entfalten und wie können Sie als Künstlerin aus dem Ausland Einfluss auf die Veränderungen nehmen?

Tawada Yōko: Es ist sehr schwierig für die Angst, Sprache zu finden. Da müssen die Künstler und Schriftsteller dabei helfen – auch wenn „helfen“ hier komisch klingt – die Worte zu finden. In einer mehr oder weniger geschlossenen Gesellschaft wie in Japan bilden sich außerdem schnell Tabus, ohne dass das den Leuten bewusst ist. Es ist möglich, öffentlich über Dinge zu sprechen, sie werden deswegen nicht ins Gefängnis geschickt. Aber trotzdem wird über bestimmte Dinge nicht gesprochen, bestimmte Wörter werden nicht benutzt.

Das passiert so unbewusst, dass nur die Japaner, die im Ausland wohnen – unbewusst oder aus Tollpatschigkeit – in Japan ein Thema ansprechen und alle erschrecken sich: Was redest du denn da?! Aber genau das ist gut, das ist ein Schock und bringt neuen Wind.

In Deutschland passiert das nicht mehr so oft, denn Deutschland liegt nicht nur mitten in Europa, ist platziert zwischen Osten und Westen, einschließlich Afrika. Man ist hier konfrontiert mit allen möglichen Sichtweisen. Das ist ein Vorteil, aber auch sehr schwierig. Trotzdem könnte man sich in Japan davon etwas abschauen.

Japan Digest: Wie sehen Sie die Rolle der sozialen Medien, des Internets für die Künstler, die versuchen, neue Impulse zu bringen?

Tawada Yōko: Man muss sich dazu gut auskennen mit der Funktionsweise des Internets. Die Rechtsradikalen sind besser vertreten als die Kunst. Wenn man bestimmte Begriffe auf Japanisch sucht, sei es Zwangsprostitution im Zweiten Weltkrieg, koreanisch-japanische Beziehungen oder AKW, kommen als erstes hundert rechtsradikale Webseiten – und dann erst andere Ergebnisse. Man kann im Internet nur durch bestimmte Wege bestimmte Leute erreichen. Es ist nicht so, dass man alle durch das Internet erreichen kann, nur weil das Internet allen offensteht. Man muss die Wege kennen, und deshalb ist die Reichweite des Internets nicht unbedingt größer als die des Büchermarktes. Bei Lesungen sind vielleicht nur hundert Leute, aber jeder ist als Mensch dort, der seine Meinung aussprechen kann, und kein anonymer Besucher einer Webseite. Es geht nicht pauschal um die Anzahl der Menschen, die man erreichen kann, sondern darum, wie tief und wie konkret.

Japan Digest dankt Tawada Yōko für das Interview!

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