Okinoshima liegt in der Meerenge zwischen der japanischen Insel Kyūshū und der koreanischen Halbinsel. Seit dem 4. Jahrhundert galt sie als spirituelles Tor zwischen den Kontinenten und als sicherer Ankerpunkt für Seefahrer, die zwischen den Küsten Japans, Koreas und Chinas verkehrten. Die Bewohner der Region Munakata (Präfektur Fukuoka) waren erfahrene Nautiker, die ihre Kenntnisse in Navigation, Sternkunde und den Gezeiten über Generationen weitergaben. Sie verehrten hier drei Meeresgöttinnen und baten um Schutz sowie günstige Winde auf ihren Fahrten.
Von der zweiten Hälfte des 4. bis zum 9. Jahrhundert wurden auf Okinoshima großangelegte rituelle Zeremonien abgehalten. Diese dienten nicht nur dem Schutz der Seefahrer, sondern auch dem Erhalt harmonischer Beziehungen mit fernen Königreichen. Die Priester brachten kostbare Opfergaben dar, darunter Gold- und Bronzespiegel aus Japan und Korea sowie kunstvoll gearbeitete Waffen und Perlen, wie sie auch als Grabbeigaben in den Kofun-Gräbern vorkommen. Archäologische Funde, darunter Glas aus Persien, belegen, dass Okinoshima in ein weitreichendes Handels- und Kulturgeflecht eingebunden war. Heute zählen diese Kostbarkeiten zu den Nationalschätzen Japans.

Vom Felsgipfel zum offenen Himmel
Die spirituelle Praxis auf Okinoshima erfuhr im Laufe der Jahrhunderte bedeutende Wandlungen, die sich auch in der Wahl der Orte widerspiegeln. Zu Beginn, im späten 4. Jahrhundert, fanden die Zeremonien hoch oben auf den schroffen Gipfeln der Insel statt. Dort wurden die Opfergaben sorgsam in kleinen Felsspalten niedergelegt und mit Steinen bedeckt, um sie vor der Witterung zu schützen.
Im Verlauf des 5. Jahrhunderts verlagerte sich der Ort der Rituale in den schützenden Schatten der mächtigen Felsen. In dieser Phase umfassten die Weihegaben auch filigrane Miniaturwaffen und bronzene Zaumzeuge, die von der koreanischen Halbinsel stammten, außerdem wertvolle internationale Funde wie ein goldener Ring aus Silla und Fragmente persischen Glases, das wahrscheinlich über die Seidenstraße nach Japan gelangte. Diese Gegenstände zeugen von den regen Handelsbeziehungen und dem kulturellen Austausch jener Zeit.
Im 8. Jahrhundert schließlich verlagerte sich das rituelle Geschehen erstmals auf die flachen, offenen Flächen der Insel. Um einen markanten Steinaltar gruppierten sich Opfergaben verschiedenster Keramikarten sowie Figuren in Form von Menschen, Pferden und Schiffen. Diese Entwicklung spiegelt einen Wandel im religiösen Verständnis und den Einfluss staatlicher Ordnung wider, die lokale Traditionen in einen größeren kulturellen Kontext einbettete. So wurden kultische Handlungen durch den Übergang zur Tang-Dynastie auf dem chinesischen Festland und die damit verbundenen Reformen der Yamato-Herrschaft beeinflusst.
Die drei Schreine
In der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts entstanden neben dem Okitsumiya auf Okinoshima zwei weitere Kultstätten: zum einen der Nakatsumiya auf Ōshima und zum anderen der Hetsumiya auf Kyūshū. Zusammen bilden sie den Schrein Munakata Taisha, in dem die Drei Göttinnen von Munakata angebetet werden.
Die ältesten Chroniken, Kojiki und Nihon-shoki aus dem frühen 8. Jahrhundert, berichten vom mächtigen Munakata-Klan, der diese Gottheiten verehrte und als Mittler zwischen den Göttern und den Seefahrern galt. Über 1.300 Jahre hat sich dieser Glaube bis in die Gegenwart erhalten. Auch heute noch werden in den Schreinen Rituale durchgeführt, die in direkter Linie auf die Zeremonien des alten Japans zurückgehen.

Strenge Tabus und unberührte Natur
Das Betreten der Insel Okinoshima ist der Öffentlichkeit strengstens untersagt. Nur wenigen Auserwählten ist es gestattet, die Insel am 27. Mai, wenn ein spezielles Ritual abgehalten wird, zu besuchen. Allerdings ist die Zahl der Zugelassenen auf 200 Männer limitiert; Frauen wird der Zutritt nicht gewährt. Da der direkte Zugang für Gläubige und Touristen nahezu unmöglich ist, wird die Insel vom nahegelegenen Schrein auf Ōshima aus verehrt.
Dieses Tabu hat entscheidend dazu beigetragen, dass Okinoshima in ihrer natürlichen Form nahezu unberührt blieb. Die Küsten sind von dichten Wäldern umgeben, in denen seltene Pflanzen gedeihen, und das umliegende Meer bietet Lebensraum für zahlreiche Meeresarten. Die Insel ist damit nicht nur ein spirituelles, sondern auch ein ökologisches Schutzgebiet von unschätzbarem Wert.
Zum Welterbe ernannt
2017 wurden Okinoshima und die zugehörigen Kultstätten als UNESCO-Welterbe anerkannt. Ziel ist nicht nur der Erhalt der heiligen Orte selbst, sondern auch der Schutz der umgebenden Landschaft, des Meeres und der Lebensweise der Menschen, die diesen Glauben bewahren. Bis heute lebt die Tradition in den jährlichen Festen, den rituellen Bootsfahrten und den Geschichten fort, die von den Alten an die Jüngeren weitergegeben werden. Ein Höhepunkt ist das alljährliche Miare-Fest, bei dem prächtig geschmückte Boote von Okinoshima nach Ōshima fahren, um die Gottheiten symbolisch an Land zu geleiten. Die farbenfrohen Prozessionen auf dem Meer und die feierlichen Zeremonien an Land verbinden die Gegenwart mit einer jahrhundertealten Tradition.
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