Kawasaki: Die unterschätzte Großstadt

Matthias Reich
Matthias Reich

Wie viele Japaner in Deutschland den Spitznamen „Kawasaki“ verpasst bekamen, ist unbekannt. Mangels Alternativen, wegen der bekannten Motorräder – und dank des alten Otto-Waalkes-Klassikers („Honda Honda Kawasaki ♪“). Erzähle ich jedoch jemandem aus Deutschland, dass ich in Kawasaki lebe, sehe ich oft lange Gesichter: Was, den Ort gibt es wirklich?

© SeanPavonePhoto / iStock

Die Stadt im Schatten von Tōkyō ist dabei durchaus eine Entdeckung wert. 2019 war es offiziell: Die Stadt Kawasaki knackte die 1,5-Millionen-Marke und überholte damit das wesentlich bekanntere Kōbe bei Ōsaka. Damit wurde sie die sechstgrößte Stadt Japans. Heute hat sie gut 1,55 Millionen Einwohner, Kōbe hingegen 1,49. Doch warum ist sie als Stadt so unbekannt im Ausland? Und warum schauen einen viele Japaner ganz mitleidig an, wenn man sagt, dass man in Kawasaki lebt?

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Der Reihenfolge nach also: Kawasaki liegt südlich von Tōkyō und beginnt gleich am anderen Ufer des Tama-Flusses, gegenüber des Flughafens Haneda. Von der Küste der Bucht von Tōkyō erstreckt sie sich fast 30 Kilometer ins Hinterland, doch von Nord nach Süd sind es an vielen Stellen weniger als drei Kilometer. Gleich nach Kawasaki, von Tōkyō aus gesehen, beginnt die mit fast vier Millionen Einwohnern größte Stadt Japans, Yokohama.1 Es gibt zahlreiche Verbindungen zwischen diesen Städten, doch gerade bei den Bahnlinien gilt: Man merkt einfach nicht, was wo anfängt und aufhört – und ehe man herausbekommen hat, dass man gerade in Kawasaki ist, hat man es auch schon wieder verlassen.

Industrie, Tempel und Tradition

Aber warum der mitleidige Blick einiger Japaner? Den versteht man, wenn man die Küste der Stadt abfährt (oder abfliegt; manch Flieger nach Haneda macht genau das kurz vor der Landung). Denn Kawasaki hat sehr viele Gesichter. Der Küstenbereich sieht aus wie eine Szene aus Bladerunner : viel Industrie, viel Dampf, hier und da eine immer brennende Gasfackel. Hier möchte man nicht gerne wohnen – und natürlich wohnt hier auch niemand. Dahinter, also westlich davon, folgt das ältere Kawasaki rund um den Kawasaki Daishi, eine gewaltige Tempelanlage aus dem 12. Jahrhundert nebst Tempelbezirk und der obligatorischen Ladenstraße vor dem Tempel, in der traditionelle Bonbonmacher mit ihren Spateln laut klopfend Kundschaft anziehen. Der Daishi, wie er auch kurz genannt wird, ist ein wahrer Besuchermagnet mit rund zehn Millionen Besuchern pro Jahr – allein während der drei Neujahrstage besuchen ihn mehr als drei Millionen Menschen.

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Herz und Hochhäuser der Stadt

Weiter westlich findet man den Hauptbahnhof der Stadt, umgeben von einem großen Geschäftsviertel mit zahlreichen Hochhäusern, Kaufhäusern und dergleichen. Das manchmal noch immer etwas schlechte Image bezieht die Stadt jedoch aus dem Mittelteil von Kawasaki. Hier sieht es ein bisschen chaotisch aus, die Wohnhäuser sind nicht immer die neuesten, und die Sitten sind etwas rauer, aber auch herzlicher als in weiten Teilen von Tōkyō. Für die Imagepflege sorgen Rapper wie etwa die Crew Bad Hop, die den Eindruck erwecken, dass man sich hier in einer Art Ghetto befindet.

Von „Musako“ bis Godzilla

Wieder etwas westlich davon und fast in der Mitte der Stadt ragen plötzlich zahlreiche, bis über 200 Meter hohe und sehr moderne Wohntürme empor: Musashi Kosugi, kurz gern „Musako“ genannt, bis Ende der 1990er noch eher von dörflichem Charakter, ist heute ein hochmodernes, sehr beliebtes und teures Wohnviertel. Es wurde im Film Shin Godzilla (2016) verewigt – hier versuchte man zuerst, die resistente Kreatur, bekanntermaßen erfolglos, mit Panzern und Kampfflugzeugen aufzuhalten.

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Grüne Hügel, alte Häuser, Anime und Kunst

Hinter Musako geht es immer gemächlicher zu, die Bevölkerungsdichte nimmt spürbar ab, dafür wird die Landschaft interessanter: Hier beginnt das Tama-Hügelland mit sanften Hügeln und ruhigen Tälern. Hier findet der Besucher durchaus interessante Anlaufpunkte – vor allem im Gebiet rund um Ikuta-Ryokuchi, einem großen Park auf einer Hügelkette bei Noborito, nur 15 Minuten mit der Bahn von Shinjuku entfernt. Im Nihon Minkaen sieht man eine große Zahl liebevoll restaurierter, traditioneller japanischer Häuser, in denen man auch in rustikaler Atmosphäre Soba genießen kann. Unweit davon liegt das Doraemon-Museum – ein Muss für jeden Anime-Fan. Doch Vorsicht: Ohne Online-Reservierung kommt man hier nicht rein. Die Doraemon-Titelmelodie ist dementsprechend auch die Bahnhofsmelodie von Noborito.

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Dann wäre da auch noch das Okamoto-Tarō-Museum mitten im Park: Okamoto war einer der prägendsten gestaltenden Künstler der Gegenwart, und hier kann man in einem modernen Bau viele seiner Werke begutachten. Zu guter Letzt noch das Yomiuri Land am westlichen Stadtrand – ein riesiger Vergnügungspark, der zu jeder Jahreszeit einen Abstecher wert ist. Direkt daneben soll demnächst auch ein Pokémon-Themenpark entstehen.

Fazit: Mehr als nur ein Name

Mit anderen Worten: Kawasaki ist eine sehr vielfältige Stadt, in der man von Ost nach West alle Facetten Japans kennenlernen kann – sowohl des modernen als auch des alten Japans. Und mit einer durchschnittlichen Fahrtzeit von 20 Minuten ins Zentrum von Tōkyō ist Kawasaki zunehmend auch als Wohnort beliebt. Entgegen dem allgemeinen Trend vieler japanischer Gemeinden steigt die Einwohnerzahl hier stetig weiter.

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