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Sanpuru – Wie täuschend echtes Fake Food Japan eroberte

Diana Casanova
Diana Casanova

Seit fast 100 Jahren sind sie Teil der japanischen Esskultur: Sanpuru, Imitate von Lebensmitteln und Gerichten, sind in ihrer Herstellung und Präsentation aufwendig, detailgetreu und nur auf den zweiten Blick von echten Speisen zu unterscheiden. Ein lukratives Kunsthandwerk, das dem Sprichwort „Das Auge isst mit“ eine neue Bedeutung verleiht.

Plastik sushi
Man muss schon genau hinschauen, um zu erkennen, dass dies nicht echtes Sushi, sondern Imitate, "Sanpuru", sind. © iStock / tororo

Sie stehen vor dem Schaufenster eines Restaurants in Japan und statt des Innenlebens starren Sie auf ein Regal mit verschiedenen Gerichten. Was nach einem groben Verstoß gegen Hygienevorschriften aussieht, stellt sich erst bei ganz genauem Hinschauen als geniale Werbestrategie heraus: Die Speisen sind nämlich nicht echt.

Praktisch überall in Japan, von kleinen Cafés bis hin zu edlen Sushi-Restaurants, findet man solche shokuhin sanpuru (食品サンプル, vom englischen „sample“). Das sind nachgemachte Lebensmittel und Speisen aus Plastik, Harz oder Silikon, die das Menü eines Restaurants anschaulich und wirklichkeitsgetreu präsentieren. Egal ob Sushi, Nudelsuppen, Pizza, gegrillter Fisch, Eiscreme, Salat oder Getränke – so ziemlich alles Essbare lässt sich imitieren. Vor allem für ausländische Touristen, die wenig bis kein Japanisch sprechen, sind sie ein wahrer Segen, denn so kann man schon vorher entscheiden, was man essen will, oder beim Bestellen einfach darauf zeigen.

Japanese wax food
So sieht ein typisches Sanpuru-Display aus, hier in einem Soba-Restaurant in Kanazawa (Präfektur Ishikawa). © iStock / TkKurikawa

Durchbruch nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Konzept der Plastikimitate gab es allerdings schon lange, bevor der Massentourismus nach Japan zu boomen begann. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die sanpuru populär, als mehr und mehr Ausländer ins Land kamen. Englischsprachige Speisekarten gab es kaum und auch Farbfotografien der Gerichte waren für viele noch nicht erschwinglich. Durch die Imitate wurden japanische Restaurants für Menschen ohne Sprachkenntnisse ungemein zugänglicher. Mit der Zeit wurden aus den beispielhaften Modellen effektive Marketinginstrumente, mit denen sich visuell und auf den Punkt gebracht der Reiz eines Restaurants vermitteln ließ.

Seither hat sich daraus eine millionenschwere Industrie und ein richtiges Kunsthandwerk entwickelt. Obwohl sie aus Plastik bestehen, sind sanpuru jedoch alles andere als billig: Die Künstler fertigen diese meist noch in aufwendiger Handarbeit an, an deren Gespür für Ästhetik sowie jahrelange Ausbildung selbst moderne Technologien wie 3D-Drucker nicht herankommen. Bis zu einer Woche kann die Herstellung eines einzelnen Gerichtes dauern. Viele der sanpuru sind Einzelstücke, sodass deren Preise den der dargestellten Speise um ein Vielfaches übersteigen können.

Parfait
Die Künstler können wirklich alle Gerichte imitieren: Parfaits sind besonders eindrucksvoll, sie werden aus Silikon und bunten Dekorationen kreiert. © D. Casanova

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Herstellung und Geschichte der sanpuru 

Um die Imitate so originalgetreu wie möglich anzufertigen, ist es üblich, dass Restaurants den Manufakturen Fotos ihrer Gerichte oder diese gar in gefrorenem Zustand zuschicken. Auf dieser Grundlage wird eine Gussform aus Silikon hergestellt, in die flüssiges Harz bzw. Plastik gefüllt wird, um diese im Ofen härten zu lassen. Etwaige Schönheitsfehler der Rohlinge werden korrigiert und anschließend per Hand oder Airbrush-Methode bemalt. Dann wird serviert: Alle „Zutaten“ des Gerichtes werden entsprechend des Originals kunstvoll angeordnet, fixiert und erhalten zum Schluss ein glänzendes Finish.

Es ist etwas umstritten, wann und wo genau das Fake Food seinen Ursprung hat. Schon in den 1920ern sollen sie in Einkaufszentren ausgestellt worden sein, doch man ist sich einig, dass der Japaner Iwasaki Takizō als der „Vater der sanpuru“ gilt. In seinem Haus in Gujō-Hachiman (Präfektur Gifu) soll er ein Omelett aus Wachs gezaubert haben, das so echt aussah, dass selbst seine Frau den Unterschied auf den ersten Blick nicht bemerkte. Nach viel Experimentieren entwickelte er eine einzigartige Herstellungsmethode und gründete 1932 das Unternehmen Iwasaki Be-I. Damit kommerzialisierte Iwasaki erfolgreich die Lebensmittelimitate – heutzutage produziert sein Unternehmen als Marktführer ca. 60 % der sanpuru in Japan.

Iwasaki Takizo
Iwasaki Takizō gilt als der "Vater der sanpuru". © IWASAKI CO., LTD.
Omelette
Das "Original"-Omelette, kreiert von Iwasaki Takizō, kann heute in Gujō-Hachiman besichtigen. © IWASAKI CO., LTD.

Sanpuru zum Selbstmachen

Mittlerweile sieht man sie nicht nur vor Restaurants, sondern auch in Miniaturform als Anhänger, Magnete und andere Souvenirs in zahlreichen Geschäften im ganzen Land. Die Einkaufsstraße Kappabashi Dōgugai in Asakusa, Tōkyō, ist berühmt für ihre breite Auswahl an Plastikspeisen, genauso wie Iwasakis Heimat Gujō-Hachiman, wo man u.a. Produktionszentren und im „Sample Village Iwasaki“ sogar das eben genannte Original-Omelett besichtigen kann. Spannende Workshops oder Bastelsets für Zuhause bieten Touristen und DIY-Fans die Möglichkeit, sich selbst an der Herstellung eines sanpuru zu versuchen. Schlagen Sie bei den einzigartigen Gerichten also ruhig zu – im übertragenen Sinne versteht sich.  


Dieser Artikel erschien in der Juli-Ausgabe des JAPANDIGEST 2021. Er wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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