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Jetzt erst recht: Geistige Ruhe mit Zazen

Kei Okishima
Kei Okishima

Durch die Corona-Krise hat sich unsere Arbeitsweise sehr stark verändert und neue Sorgen und Ängste sind entstanden. Die Meditationstechnik Zazen kann dabei helfen, im Alltag Ruhe und Gelassenheit zu finden.

Kot-Karpfen im Teich in einem japanischen Garten (Wasser fließt ruhig dahin, intensives Blau)

Selbst Apple-Gründer Steve Jobs soll sie praktiziert haben – die Zen-Meditationstechnik Zazen. Die Sorgen und Ängste vieler Menschen haben besonders während der Corona-Krise zugenommen, doch durch Meditation scheinen diese sich weniger von negativen Emotionen beeinflussen zu lassen. Das Geheimnis, Stress zu akzeptieren und abzuschütteln: Was genau ist Zazen? Wir haben mit dem Hauptpriester des Zenshōan-Tempels der Rinzai-Schule in der 7. Generation, Hirai Shōshū, gesprochen, der uns unter anderem verraten hat, was der Zustand der „Gelassenheit“ genau bedeutet.

Was genau ist Zazen?

Beim Zazen geht es in erster Linie darum „Körper, Atmung und Geist“ in die richtige Balance zu bringen. Mit anderen Worten, das Fundament von Zazen ist es „geistig zur Ruhe zu kommen“. Unser aller Alltag beginnt mit dem eigenen Geist, jeder Mensch lebt mit ihm. Wenn derjenige an nichts denkt, dann sagt oder tut er auch nichts. Das Wichtigste ist das, woran er denkt. Doch obwohl es sich um seinen eigenen Geist handelt, kann er ihn nicht steuern.

Bei unangenehmen Gedanken sagt man vielleicht zu sich selbst: „Ich höre besser auf, darüber nachzudenken“. Es geht um meinen eigenen Geist, also sollte ich dazu in der Lage sein, doch kaum denke ich „Hör auf!“, kann ich genau das nicht. Am einfachsten zu erklären ist es wohl, wenn man nervös ist. Bei Wettkämpfen, Vorträgen, der Arbeit – bei Dingen, in die man viel Mühe gesteckt hat, möchte man 100 % geben, besser sogar 120 %. Die Nervosität setzt in den unpassendsten Situationen ein. Der Geist tut nicht das, was ich von ihm will. Die Grundlage von Zazen ist es, diesen Geist eigenständig zu lenken. 

Da er keine greifbare oder sichtbare Gestalt hat, kann man nicht plötzlich Zugang zu diesem bekommen. Wir beginnen also erst die zwei Dinge anzupassen, die man tatsächlich kontrollieren kann: die Körperhaltung und die Atmung. Durch deren Anpassung kann man mit Zen auch Einfluss auf den Geist nehmen.

Was bedeutet das Ausatmen in diesem Kontext? 

Der Mensch atmet den ganzen Tag über und das zu 99 % unbewusst. Der Körper spannt sich beim Einatmen an, als ob dabei verschiedene Dinge aus dem eigenen Blut nach oben steigen. Im Gegensatz dazu entspannt sich der Körper beim Ausatmen wieder und die Dinge fließen mit dem Blut nach unten. Wenn man wütend ist, sagt man auf Japanisch häufig: „Es steigt mir zu Kopf!“. Denn dabei steigt das Blut wirklich in den Kopf. Indem wir tagtäglich viele Dinge sehen und hören, werden wir ständig an etwas erinnert. Ob Trauer oder Leid, wenn wir daran erinnert werden, steigen sie in uns auf. Durch Ausatmen befördern wir diese aufsteigenden Emotionen rasch wieder nach unten. 

Hirai Shōshū, der Hauptpriester des Zenshōan-Tempels in Tōkyō vor einer Kalligraphie.
Hirai Shōshū, der Hauptpriester des Zenshōan-Tempels in Tōkyō.

Der Akt des Ein- und Ausatmens besteht darin, den Geist zu beruhigen. Wenn man darüber nachdenkt, so tut man den ganzen Tag lang nichts anderes als atmen. Bei körperlichem Stress beschleunigt sich die Atmung – sie ist das Barometer des Geistes. 

Warum ist es wichtig, eine gute Körperhaltung zu haben?

Die Anpassung der Körperhaltung dient der richtigen Atmung. Mit einem gekrümmten Rücken kann man nicht tief einatmen. Um den Geist in Balance zu bringen, muss man sich daher stets in der richtigen Haltung befinden. Legen Sie die Beine überkreuz, strecken Sie den Rücken und konzentrieren Sie sich auf die eigene Atmung. Anstatt plötzlich zu versuchen, Ihre unsichtbaren Gedanken zu ordnen, müssen Sie erst die richtige Körperhaltung einnehmen, um die Atmung und somit auch den Geist anzupassen. 

Es heißt: „Wer Zazen praktiziert, wird ruhig und gelassen.“ Was genau bedeutet dieser Zustand der „Gelassenheit“?

Ich denke, dabei geht es darum, den eigenen Körper und Geist auf das zu konzentrieren, was man gerade tut. Die Schriftzeichen für „Gelassenheit“ (無心) kann man als „ohne Herz“ lesen, also auch „an nichts denken“ – doch in Wirklichkeit denken die Menschen selten an absolut nichts. Ich frage die Leute, die zur Zen-Meditation zu uns kommen, oft: „Seid ihr alle wach?“. Dann schauen sie mich verwundert an und antworten: „Ja, wir sind wach!“. Was ich damit erfahren möchte, ist, ob ihr Geist anwesend ist. Die Augen mögen offen und der Körper präsent sein, doch ist es der Geist auch? 

Zum Beispiel denke ich während der Arbeit an mein Zuhause, während Meetings denke ich an Vergnügen – mein Geist kann durch Zeit und Raum, in die Vergangenheit und in die Zukunft reisen. Daher kann der Körper zwar anwesend sein, aber der Geist vielleicht nicht. Ich glaube, dass der Zustand der „Gelassenheit“ jener ist, wenn sowohl Körper als auch Geist sich vollends auf eine Sache konzentrieren. Beim Zazen üben wir dementsprechend zuerst das Stillsitzen, ohne etwas zu tun, um Körper und Geist zu vereinen. 

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Ist Zazen also etwas, das man jeden Tag verbessern kann?

Anstatt sich zu „verbessern“ geht es mehr darum, sich daran zu gewöhnen. Beim Zazen muss man nichts weiter tun als stillsitzen und auf die Atmung achten, daher kann das wirklich jeder mitmachen. Sicher, wenn Sie dies für eine lange Zeit praktizieren, verbessert sich die Körperhaltung oder Sie können auf natürlichere Weise atmen – man gewöhnt sich eben an diese Sachen. Doch das Problem bleibt weiterhin der „Geist“. Aus diesem Grund schaffen es einige Menschen direkt beim ersten Mal ihren Körper und Geist zu vereinen, während andere es auch nach drei Jahren nicht können. Es hängt also davon ab, wie ernst man es mit dem Zazen meint.

Zazen hilft den Menschen dabei, sich weniger von negativen Emotionen beeinflussen zu lassen.

Ich habe in einem Artikel gelesen, dass Sie für eine Fernsehsendung Bungee-Jumping gemacht haben, doch währenddessen ist Ihre Herzfrequenz überhaupt nicht angestiegen. Das ist sicherlich ein Ergebnis der Meditation, doch was unterscheidet Sie hierbei von anderen Menschen?

In dieser Fernsehsendung, in der es um ein Experiment zum Thema „Angst“ ging, wurde ich gewöhnlichen Männern gegenübergestellt. Medizinische Daten sind mir zwar nicht bekannt, aber es schien, als ob ich tatsächlich weniger ängstlich als die anderen war. Das Bungee-Jumping machten wir über einem Fluss und sie hatten Gedanken wie „Was ist, wenn das Seil reißt?“ oder „Wenn ich dort aufpralle, sterbe ich!“. Natürlich hatte ich auch Angst, aber wenn das Seil reißt, dann reißt es – egal, wie sehr ich mir darüber den Kopf zerbreche, daran würde sich nichts ändern. 

Auf dieser Welt gibt es so viele Dinge, auf die ich mit meinen Gedanken keinen Einfluss habe. Wenn man in unnötige Grübeleien verfällt, ist es wichtig zu erkennen, wann das Nachdenken keinen Sinn mehr macht und einen Schlussstrich zu ziehen. In dieser Hinsicht hilft Zazen dabei, sich weniger von diesen negativen Emotionen beeinflussen zu lassen. 

Ich habe gehört, dass Zazen auch bei psychischen Erkrankungen wie Depression wirksam sein kann. Was denken Sie darüber?

Ich war noch nie an einer solchen medizinischen Behandlung beteiligt, daher kann ich kein fachliches Urteil dazu geben. Allerdings glaube ich, dass es nach dem Beginn einer Depression schon zu spät ist. Wie jede andere Krankheit auch sollte sie fachärztlich behandelt werden. Jeder gibt sich ja große Mühe, mithilfe einer gesunden Lebensweise und der passenden Ernährung seinen Körper zu stärken. Ich denke aber, dass es überaus wirkungsvoll ist, Zazen dort mit einzubeziehen, da so nicht nur der Körper, sondern auch der Geist in Form gebracht wird.

Mehr und mehr Unternehmen weltweit bieten Zen-Meditation für ihre Mitarbeiter an, doch ist das Interesse in Japan aufgrund der Corona-Krise noch einmal gestiegen? 

Wir führen Zazen auch speziell für Geschäftsleute durch. Im Tempel vor Ort nehmen 20 Menschen, online etwa 100 an den Meditationssitzungen teil. Unsere Kurse sind meistens sehr schnell ausgebucht. Die Arbeitsweise der Menschen hat sich aufgrund der Corona-Krise auf einen Schlag verändert. Besonders Firmenneuzugänge, die nicht vor Ort arbeiten können, fühlen sich häufig der Firma gar nicht richtig zugehörig. Auch Menschen mittleren oder höheren Alters, die bis dahin jeden Morgen aufgestanden, mit der Bahn zur Arbeit und dann wieder nach Hause gefahren sind – deren Tagesrhythmus hat sich komplett verändert. Daraus entstehen bei ihnen Sorgen und Unruhe im eigenen Körper. Aus diesem Grund gibt es viele Menschen, die sich für Zen-Meditation interessieren.

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Unabhängig von der Corona-Pandemie glaube ich allerdings auch, dass Smartphones großen Einfluss ausüben. Viele Menschen haben sie ständig in der Hand, obwohl sie sie nicht den ganzen Tag brauchen, und das bis zum Schlafengehen. Wenn man etwas nicht versteht, dann neigt man dazu, es sofort nachzuschauen, im Internet gibt es ja die Antwort. Dabei existieren dort so viele Informationen, dass selbst das Internet nie die eine Lösung parat hat. Dort stehen einfach nur die Dinge, die jemand anderes einmal erlebt oder angeführt hat. Daher darf man nicht vergessen, dass die Antwort immer noch bei einem selbst liegt. 


Dieser Artikel erschien in der April 2021-Ausgabe des JAPANDIGEST und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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