Die Geschichte beginnt mit einem leuchtenden Halm im Bambuswald – darin verborgen ein winziges Mädchen, das zu einer außergewöhnlich schönen jungen Frau heranwächst. Kaguya-hime, die „Mondprinzessin“, ist Protagonistin der Taketori Monogatari („Die Geschichte des Bambussammlers“) – einer der ältesten literarischen Texte Japans und bis heute kulturell hochrelevant. Die Erzählung, entstanden vermutlich im 10. Jahrhundert, wurde in der Heian-Zeit mündlich und später schriftlich überliefert. Sie gilt als frühes Beispiel fiktionaler Prosaliteratur in Japan und wird häufig als Vorläufer des japanischen Märchens eingeordnet. Der anonyme Autor – es gibt Theorien, die eine Frau am Hof oder einen Beamten im literarischen Dienst des Tennō vermuten – erschuf mit Taketori Monogatari eine Geschichte, die sich bewusst von buddhistischen Lehrtexten oder historischen Chroniken absetzt. Stattdessen wird eine fiktive, fantastische Erzählung aufgebaut: Eine schöne Frau, deren Herkunft nicht von dieser Welt ist, lehnt Freier ab, die durch Reichtum und Einfluss Eindruck zu schinden versuchen – darunter auch der Kaiser.
Die erste Frau der japanischen Literaturgeschichte, die „Nein“ sagte
Kaguya-hime gibt ihren Verehrern unlösbare Aufgaben, um Zeit zu gewinnen – darunter die Suche nach der Buddha-Schale oder der feuersicheren Robe vom mythischen Berg Hōrai. Denn sie weiß, dass sie nicht bleiben kann: Sie stammt vom Mond. Ihre Rückkehr ist unausweichlich. Letztlich scheitern alle und Kaguya wird von himmlischen Boten abgeholt. Ihrem irdischen Leben entsagt sie, nicht aus Stolz, sondern weil ihre wahre Herkunft sie dazu verpflichtet. Was Kaguya-hime auszeichnet, ist nicht nur ihre überirdische Schönheit, sondern vor allem ihre Konsequenz. Sie verliebt sich nicht, sie heiratet nicht, sie bleibt sich selbst treu – auch als der Kaiser höchstpersönlich um ihre Hand anhält. Statt in höfischen Intrigen zu versinken, zieht sie sich bei Vollmond zurück und seufzt melancholisch in den Bambuswald. Kurz darauf kommt – wie angekündigt – eine Delegation vom Mond und holt sie ab. Bevor sie geht, hinterlässt sie dem Kaiser einen Abschiedsbrief und ein Fläschchen mit dem Elixier der Unsterblichkeit.

Von Unsterblichkeit und Vulkandunst
Eine besonders schöne literarische Fußnote zur Geschichte um Kaguya-hime betrifft den Berg Fuji – heute Ikone des japanischen Landschaftsbildes, früher ein deutlich aktiverer Vulkan. Der Legende nach ließ der Kaiser, nachdem Kaguya den Mond verlassen hatte, das Elixier und ihren Brief auf dem höchsten Gipfel des Landes verbrennen – aus Liebeskummer und der Überzeugung, ohne sie für immer leben zu müssen, sei schlimmer als sterblich zu sein. Der Rauch, so heißt es, steigt bis heute vom Fuji-san auf. Dies ist keine wissenschaftlich fundierte Erklärung für vulkanische Aktivität, aber ein schönes Beispiel für den literarischen Umgang mit Naturphänomenen in der japanischen Kultur.
Eine weitere Legende geht sogar noch weiter: Das japanische Wort für Unsterblichkeit, fushi (不死), sei zur Namensgeberin des Berges geworden. Und die heutigen Kanji von Fuji – 富士, wörtlich etwa „Reichtum“ (富) und „Krieger“ (士) – sollen sich darauf beziehen, dass der Kaiser seine Soldaten in Scharen den Berg hinaufschickte, um das Elixier zu verbrennen. Ob sprachhistorisch haltbar oder nicht – es zeigt, wie tief sich Mythos und Landschaft in Japan miteinander verweben. Ein Vulkan wird zum Gedächtnis eines unerfüllten Liebesdramas, das selbst die Geografie beeinflusst zu haben scheint.

Kaguya-hime 2.0 – Zwischen Feminismus und Popkultur
Auch mehr als tausend Jahre nach ihrer ersten literarischen Erscheinung ist Kaguya-hime in der japanischen Populärkultur allgegenwärtig – mal als direkte Adaption, mal als moderne Anspielung. Manchmal als Sinnbild weiblicher Selbstbestimmung. Andere sehen in ihr eine literarische Vorfahrin moderner Datingstrategien. In jedem Fall ist sie fester Bestandteil der japanischen Kultur. Sie taucht immer wieder auf – in Kinderbüchern, Schulstoff, Theaterstücken und sogar in der Werbung. Eine poetische Interpretation ist Studio Ghiblis Zeichentrickfilm „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ (2013), der die Geschichte in handgezeichneter Ästhetik neu erzählt – zart, reduziert, herzzerreißend.
Im Anime-Klassiker Sailor Moon lässt sich die gesamte Grundidee der Serie auf die Kaguya-Legende zurückführen: Die Heldin Usagi Tsukino (wörtlich „Mondkaninchen“) ist eine Mondprinzessin, die auf der Erde wiedergeboren wird und sich an eine frühere, tragisch beendete Liebe erinnert. Im zweiten Film der Reihe, Schneeprinzessin Kaguya, wird der Bezug noch offensichtlicher: Die Antagonistin trägt den Namen der Märchenfigur und ist eine überirdische, kühle Erscheinung mit Hang zur Einsamkeit – deutlich inspiriert vom Original.
Auch im Videospiel Ōkami (2006) tritt eine Figur namens Kaguya auf – eine junge Frau, die in einem Bambuswald gefunden wird und deren Herkunft lange unklar bleibt. Sie will zu den Sternen zurückkehren und verabschiedet sich schließlich mit einem selbstgebauten „Raketenfahrzeug“ – eine charmant-humorvolle Interpretation der alten Geschichte in einem modernen Medienformat. Die Idee einer Frau, die nicht nur schön, sondern auch nicht verfügbar ist, scheint jedenfalls ungebrochen aktuell. Sie ist ein literarischer Sonderfall – keine tragische Heldin, keine gerettete Jungfrau, sondern eine Figur, die sich ihrem Schicksal stellt, ohne dabei zur Märtyrerin zu werden. Sie kommt vom Mond und dorthin kehrt sie einfach zurück. Kein Skandal, kein Happy End, aber eine Geschichte, die über Jahrhunderte hinweg nachwirkt.
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