Gyotaku – Die japanische Kunst des Fischdrucks

Simone Hencke
Simone Hencke

Wer hat den größten Fang an Land gezogen? Um diese Frage zu beantworten, entstand in Japan, lange vor der Ära des Smartphones und der schnellen Instagram-Schnappschüsse, eine kreative Technik, die nicht nur bis heute noch Anwendung findet, sondern mittlerweile auch weltweit bekannt und beliebt ist.

Gyotaku.
Gyotaku. © Randy Duchaine / Alamy Stock Photo

Ein kleines Fischerdorf im südlichen Japan, in den späten Jahren der Edo-Zeit (1603-1868). Vor fast 200 Jahren sollen dort Fischer:innen damit angefangen haben, Pinsel, Reispapier und schwarze sumi-Tusche auf ihre Exkursionen mitzunehmen. Wenn sie einen großen oder seltenen Fisch fingen, bedeckten sie seinen Körper mit Tusche und pressten ihn auf ein Blatt Papier. Danach wuschen sie die ungiftige Tusche ab und ließen den Fisch wieder frei, verkauften oder verzehrten ihn selbst.

Gyotaku (魚拓), so nennt sich diese Methode, wörtlich übersetzt bedeutet das „Fischdruck“. Zunächst ging es dabei hauptsächlich darum, Trophäenfänge zu dokumentieren; einen Beweis für die Größe und Form eines besonderen Fisches zu haben, um im Nachhinein damit angeben zu können. Und tatsächlich wird diese traditionelle Drucktechnik in vielen japanischen Fischerdörfern auch heute noch für derartige dokumentarische Zwecke eingesetzt. Doch in vielen anderen Teilen des Landes – und auf der ganzen Welt – hat gyotaku mittlerweile auch andere Funktionen.

Von Werkzeug zu farbenfroher Kunst

Fischer:innen im alten Japan hielten auf den Drucken oft auch Informationen wie Ort und Datum ihrer Fänge fest. So können gyotaku von Wissenschaftler:innen heutzutage etwa für die Biodiversitätsforschung genutzt werden. In einigen Museen finden außerdem manchmal gyotaku-Workshops statt (wie etwa im Smithsonian National Museum of Natural History in Washington D.C., USA), wo sich Jung und Alt an der Methode versuchen und dadurch etwa mehr über die Merkmale eines Fisches lernen können.

Doch vor allem hat sich gyotaku im vergangenen Jahrhundert zu einer Kunstform entwickelt. Wurden die Fischdrucke früher eher grob und monochrom gehalten, sind sie in der Gegenwart bunt und detailliert – mit fein gezeichneten Augen oder Schuppen, die in allen möglichen Farben schillern.

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Heute werden die Drucke nicht mehr nur wie früher (und oben schon beschrieben) nach der direkten Methode (直接法, chokusetsuhō) angefertigt, bei der der Fisch einfach mit Tinte oder Farbe bestrichen und dann auf ein Blatt Papier gepresst wird. Mittlerweile gibt es auch eine indirekte Methode (間接法, kansetsuhō), bei der der Fisch im Grunde durch das Papier abgepaust wird; sowie die Transfer-Methode (転写法, tenshahō), wodurch der Fisch mithilfe einer Folie auf andere Oberflächen wie etwa Keramik oder Holz übertragen werden kann.

Gyotaku ist mittlerweile mehr als nur der Druck von Fischen. In seinem Studio in Higashimatsuyama in der Präfektur Saitama druckt der Künstler Yamamoto Ryūka zum Beispiel auch Krabben oder Meerespflanzen und hat unter anderem ein gyotaku eines über zehn Meter langen Riesenkrakens ausgestellt. (Fun Fact: Selbst Hollywood-Schauspieler Robert DeNiro soll einen Originaldruck dieses Künstlers besitzen.) Auf eine etwas andere (und vielleicht  groteskere) Art und Weise, schafft der Kanadier Jon-Erik Kroon dagegen gyotaku aus Dingen wie Fossilien, Knochen und totgefahrenen Tieren, mit dem Ziel, „die Wunder der Natur vor dem Zerfall zu bewahren.

Ein Schlüssel zu innerer Ruhe – und besonderen Erinnerungen

 Gyotaku ist mehr als nur eine Lizenz zum Angeben geworden, es hat womöglich sogar eine fast spirituelle Ebene erreicht. So berichtet ein Artikel in der Taipei Times darüber, wie der langjährige Fischdrucker Yan Shang-wen Insass:innen im Keelung-Gefängnis in gyotaku unterrichtet, um sie bei ihrer Rehabilitation zu unterstützen – und Ruhe und Gelassenheit in ihnen hervorzurufen.

Auch kann gyotaku dabei helfen, wichtige Erinnerungen festzuhalten und Geschichten zu erzählen. In einer ganz anderen Ecke der Welt, auf Hawaii, druckt der leidenschaftliche Taucher, Angler und gyotaku-Künstler Hayashi Naoki jedes Jahr um die 1.000 Fische. Oft erhält er Anfragen von Familien, die sich einen Druck, ein Andenken ihrer eigenen Fänge wünschen – oder sogar des ersten Fangs ihres Kindes. „Das passiert nur einmal im Leben. […][Diesen Moment] in dieser Form einzufangen und als Familienschatz zu besitzen, das ist der wahre Wert von gyotaku.“

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