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Die Rolle der Familie in Japan

Matthias Reich
Matthias Reich

Die Familie spielt in Japan eine extrem wichtige Rolle als kleinste Zelle der Gemeinschaft. Hier spielt auch heute noch der Konfuzianismus eine wichtige Rolle. Landflucht, die steigende Lebenserwartung und die geringe Geburtenrate hinterlassen jedoch ihre Wirkung.

familie
(c) カメラ兄さん / photo-ac

Das 1890 erlassene (und jetzt wieder heiß diskutierte) Erziehungsedikt kyōiku chokugo 教育勅語 des Meiji-Kaisers ist nicht sonderlich lang. Doch stellt es gleich an zwei Stellen heraus, wie die ideale Beziehung zu den Eltern auszusehen hat: “Unsere Untertanen sind in in unverbrüchlicher Treue gegen den Herrscher und in kindlicher Liebe zu den Eltern stets eines Sinnes gewesen…” und “Liebet und ehret denn Eure Eltern” (Übersetzung nach Christoph Kaempf, Universität Leipzig, 1938).

Der Gedanke war 1890 mitnichten neu – aus China gelangten schließlich nicht nur die Schriftzeichen und der Buddhismus nach Japan, sondern auch die konfuzianistischen Grundgedanken, in denen die Ehrung und Achtung der Älteren (einschließlich der Eltern) eine zentrale Rolle spielen. Das Wort für Lehrer (sensei 先生 ) veranschaulicht das besonders deutlich, denn wortwörtlich bedeutet das Wort lediglich “vorher geboren”.

Wer die japanische Gesellschaft, egal ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart, verstehen möchte, kommt um ein Grundverständnis der japanischen Familie nicht herum. Das Thema Familie bietet zudem sehr viel Forschungsstoff, da sich die Situation in Japan aufgrund der demographischen Entwicklung rapide ändert.

Im Vergleich zu anderen Kulturen liegt Japan in Sachen Familienzusammenhalt eher im Mittelfeld: der Schwippschwager und die entfernte Cousine können hier nicht auf den Hinterhalt der gesamten weiteren Verwandtschaft hoffen – so weit reichen die Bande nicht. Die Familienbindung ist häufig nur zwischen den engen Verwandten sehr fest, also zwischen den Kindern und Eltern und gegebenenfalls den Schwiegereltern.

In den meisten Familien gibt es dabei eine zentrale Figur, manchmal daikokubashira 大黒柱 (wörtlich: Große schwarze Säule”, sinngemäß: Stützpfeiler) genannt. Der Stützpfeiler ist in der Regel männlich, etwas älter und erfahren. Hinter dem Stützpfeiler steht freilich auch in Japan nicht selten eine Ehefrau, die ebensoviel zu sagen hat.

Ein Wort prägt dabei das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern (egal welchen Alters) ganz besonders: Oyakōkō 親孝行 . Das erste wird gern mit “Kindliche Pietät” übersetzt (oya bedeutet “Eltern”, das zweite “Handlung”) und stellt einen der Grundpfeiler des Konfuzianismus dar: Bedingungsloser Gehorsam gegenüber den Eltern. Dieser Grundgedanke äußert sich in vielen verschiedenen Aspekten.

Dass Kinder ihre Eltern auf Unterhalt verklagen, ist in Japan nahezu undenkbar (was allerdings auch legale Gründe hat – es gibt keine weitreichenden Rechtsansprüche wie zum Beispiel in Deutschland).

Auch die Tatsache, dass man in Japan so gut wie gar nichts über Kindesmissbrauch hört oder liest – es sei denn, es handelt sich um ganz spektakuläre Fälle, hat seine Gründe. Während man in Deutschland von jährlich rund 300.000 Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern ausgeht – mit einer vielfach höheren Dunkelziffer – hat man in Japan des Öfteren Probleme, überhaupt an Daten zu kommen.

Laut Wikipedia wurden 2004, und das sind die neuesten Daten, polizeilich 39 Fälle bekannt – die Meldestelle des Jugendamtes registrierte im gleichen Zeitraum rund 1.000 Hinweise. Diese Zahlen sind verdächtig gering und können nicht allein mit einem möglichen Desinteresse seitens der Behörden erklärt werden.

Die geforderte Loyalität gegenüber den Eltern (und Älteren) manifestiert sich auch in anderen Gepflogenheiten. So ist es in ostasiatischen Ländern wie Japan durchaus üblich, dass Ehepaare, ob kurz oder lang, bei den Eltern des Ehegatten leben.

Besonders brisant ist dabei das Verhältnis zwischen Schwiegermutter und -tochter, das nicht immer problemlos ist. Die Aussicht auf Dauerstress mit der “alten Frau” (das Schriftzeichen für Schwiegermutter setzt sich genau aus diesen Elementen zusammen) hat schon so manche Hochzeit vereitelt und gilt als einer der Hauptgründe für Scheidungen. Das betrifft vor allem den chōnan 長男, den ältesten Sohn: In der Regel hat der älteste Sohn mehr Verantwortung als die anderen Kinder.

Doch die Zahl der nisetai 二世帯 (Zwei-Generationen-Haushalte) und sansetai 三世帯 (Drei-Generationen-Haushalte) nimmt seit Jahrzehnten ab. Die Kinder fliehen vom Land in die Stadt und kommen immer seltener wieder, wenn die Eltern erkranken oder pflegebedürftig werden. Obwohl das Leben in den Städten hektisch und anstrengend ist, erscheint den meisten das Leben auf dem Land zu entbehrungsreich und spartanisch.

Dies und die seit geraumer Zeit sehr niedrige Geburtenrate, gepaart mit der wachsenden Lebenserwartung, stellt die japanische Gesellschaft vor große Herausforderungen. Denn während sich früher die Familie um ältere Familienmitglieder kümmerte, muss immer mehr der Staat einspringen, um auch den Älteren ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das ist gar nicht so einfach bei hoher Staatsverschuldung, dem mangelnden Willen, in die Rentenkasse einzuzahlen – und dem Stolz, der es so manchem Japaner älteren Semesters verbietet, Unterstützung von außerhalb der Familie anzunehmen.

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