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Wie Corona die japanische Gesellschaft verändert

Matthias Reich
Matthias Reich

Soviel zeichnet sich in der Corona-Krise bereits deutlich ab: Der Virus wird die Welt nachhaltig verändern. Wir befassen uns mit den bereits fortschreitenden und noch zu erwartenden Veränderungen in Japan.

Leeres Zugabteil in einem japanischen Zug
Leere Zugabteile am helligsten Tage sind in Japan eher die Ausnahme. In Zeiten von Corona allerdings Teil der neuen Normalität.

Schriftzeichen (Kanji) sind eine fantastische Sache – mit einem einzigen Schriftzeichen kann man komplexe Sachverhalte darstellen und mit diversen Assoziationen verknüpfen. So geschehen zum Beispiel nach der schweren Dreifachkatastrophe von 2011. Schnell wählte man das zuvor eher selten benutzte 絆 (kizuna, „(Ver)Bindung“) als Kanji, um die Lage nach der Katastrophe zu beschreiben, beziehungsweise um darzustellen, was bei solch schrecklichen Vorfällen am notwendigsten ist. Noch gibt es kein Schriftzeichen für die Corona-Krise, aber ein Wort wird mit Sicherheit für immer im Gedächtnis der Japaner bleiben: 自粛 (jishuku) – “Selbstbeschränkung”. Da die japanische Regierung nicht die rechtliche Grundlage hat, einen kompletten “Lockdown” zu befehlen, bleibt nur der Aufruf zur Selbstbeschränkung – also ein Appell an die Bürger, sich freiwillig an die empfohlenen Regeln zu halten. Ein Kandidat für ein einzelnes Schriftzeichen wäre auch das Zeichen 密 (mitsu), was so viel wie “eng” oder “dicht” bedeutet: In Japan wird pausenlos vor den drei mitsu gewarnt:

  1. Enge, geschlossene Räume (“dicht verschlossen”)
  2. Menschenansammlungen (“dicht gedrängt”)
  3. Dicht beieinander stehen/sein

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“Soziale Distanz”: kein Novum in Japan

Selbstbeschränkung ist in Japan kein neues Konzept. Japaner waren schon immer sehr auf das Gemeinwohl fixiert, was ganz logischerweise zur Selbsteinschränkung führt. Vielleicht möchte man ja mal nachts um zwei laut unter der Dusche singen – aber man macht es nicht, da man ja den Nachbarn stören würde. Punkt. Hier ergeben sich bei der Corona-Krise kaum neue Reibeflächen. Umso grösser ist jedoch der Einfluss des Home-Office. Die Arbeitskultur sah bisher eher so aus, dass die Angestellten von früh bis spät am Abend in der Firma schwitzen und ihre Familien deshalb höchstens am Wochenende ordentlich zu Gesicht bekommen. Das galt auch für die Kinder, die selbst nach Ende des Unterrichts wegen diverser Clubs und Zirkel bis früh am Abend in der Schule blieben. Plötzlich fanden sich alle zusammen zu Hause wieder – mit dem klaren Aufruf, dort auch nach Möglichkeit zu bleiben.

Leere Straßen in Tōkyō bei Nacht
Leere Straßen in Tōkyō bei Nacht.

Mit unerwarteten Folgen: Zu Beginn der Corona-Krise rechnete man mit einer Zunahme der Selbstmordrate, zum Beispiel von Menschen, deren wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht, oder Menschen, die ob der Krise einfach keine Perspektive mehr sehen. Das Gegenteil war der Fall: Im Vergleich zum gleichen Monat im Vorjahr sank die Anzahl der Selbstmorde um rund 20%. Genau betrachtet ist das eigentlich nicht verwunderlich, denn die Menschen überarbeiten sich im Home-Office nicht, und die Schikane durch Vorgesetzte in der Firma oder Mitschüler an den Schulen entfällt. Die Menschen haben mehr Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen, und kommen weniger auf Selbstmordgedanken.

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Umdenken in der japanischen Arbeitskultur

Ein weiteres Motto der Corona-Krise wird für weitreichende Veränderungen sorgen: 不急不要 (fukyū fuyō), “nicht dringend und nicht wichtig”. Es wird darum gebeten, alles, was nicht wichtig oder nicht dringend ist, sein zu lassen. Mit diesem Konzept muss sich vor allem die Gastronomie und das Restaurantgewerbe vertraut machen, denn man erwartet von Restaurants zum Beispiel, Maßnahmen zu treffen, um die „soziale Distanz“ zu gewährleisten – zum Beispiel durch mehr Abstand zwischen den Plätzen. Das wird viele Gewerbetreiber dazu zwingen, so viel zu sparen wie möglich, denn im deflationären Japan kommen Preissteigerungen nicht gut bei den Kunden an. Doch die geringeren Einnahmen aufgrund der verringerten Kapazität bei gleichbleibenden Festkosten werden einen hohen Kostendruck erzeugen. Positiver ist da der Effekt in den Büros: Abteilungsleiter und Manager lernen momentan auf radikale Art und Weise, wie man auch ohne permanente Meetings effizient arbeiten kann. Es gibt zudem auch schon erste Firmen, die darüber nachdenken, ihre Büros aufzugeben – neben dem Personal oft der größte Kostenpunkt – und es beim Home-Office und gelegentlich gemieteten Räumen zu belassen.

Alles in allem ist man in Japan momentan vorsichtig optimistisch: Ohne allzu große Umstellungen ist es scheinbar gelungen, das Virus auf Distanz zu halten, und darauf ist man stolz.

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