Der Übergang ins Erwachsenenleben ist in vielen Kulturen mit symbolischen Handlungen verbunden, so blickt auch in Japan diese Tradition auf eine lange Geschichte zurück. 1948 wurde der Seijin no Hi (Tag der Volljährigkeit) als moderner Feiertag eingeführt, der seither jährlich am zweiten Montag im Januar gefeiert wird. Bis 2022 galt man in Japan mit 20 Jahren als volljährig. Heute liegt das gesetzliche Alter bei 18, dennoch richten sich die meisten kommunalen Feiern weiterhin an 20-Jährige. Der Tag vereint individuelle Inszenierung, familiären Stolz und nationale Tradition.

Der Kimono als Symbol des Erwachsenwerdens
Kaum ein Kleidungsstück steht so sehr für den Seijin no Hi wie der furisode – ein farbenfroher, aufwändig gestalteter Kimono mit langen, schwingenden Ärmeln, der historisch von unverheirateten Frauen getragen wurde. Für viele junge Japanerinnen ist er Ausdruck von Eleganz, Stolz und sozialem Status. Auch bei der Kleidung von jungen Männern lassen sich ähnliche Tendenzen beobachten: Während der westliche Anzug lange Zeit als Standard galt, ist im letzten Jahrzehnt ein sichtbares Revival traditioneller Kleidung zu erkennen. Immer mehr junge Männer greifen – teils aus modischem Interesse, teils als Ausdruck kultureller Rückbindung oder Gruppenzugehörigkeit – bewusst zu einer Kimono-Kombination mit hakama und haori.

Es ist üblich, sich einen Kimono für diesen Anlass zu leihen. Die Auswahl erfolgt oft gemeinsam mit der Mutter oder Großmutter, wobei persönliche Vorlieben, regionale Stile und modische Trends gleichermaßen eine Rolle spielen. Der Kimono fungiert an diesem Tag somit nicht nur als festliche Kleidung, sondern als kulturelles Zeichen, das Zugehörigkeit, Generationsbezüge und soziale Rollen vermittelt. Gerade diese Verbindung zwischen den Generationen zeigt sich auch in einem Trend, der in den letzten Jahren an Beliebtheit gewonnen hat: dem sogenannten mamafuri. Dabei übernehmen junge Frauen den furisode ihrer Mutter oder eines anderen Familienmitglieds und kombinieren ihn mit modernen Accessoires wie einem auffälligen obi, verspielten Haarspangen oder modischen Schuhen. Die Mischung aus Familientradition und individuellem Ausdruck verleiht dem Tag nicht nur eine sehr persönliche Note, sondern auch eine emotionale Tiefe.

Der große Tag: Einblicke in heutige Feierlichkeiten
Egal ob Leihkimono oder mamafuri, die Vorbereitungen für den Seijin no Hi beginnen oft Monate im Voraus. Insbesondere junge Frauen buchen bereits ein Jahr vorher ein Komplettpaket bestehend aus Kimono-Verleih, Anprobe, Friseurtermin und professionellem Fotoshooting. Auch bei den Männern, die sich für traditionell-japanische Kleidung entscheiden, gehört eine Anprobe und Styling-Beratung inzwischen häufig dazu. Am Tag selbst finden in Städten und Gemeinden offizielle Zeremonien statt, meist in öffentlichen Hallen, Rathäusern oder Kulturzentren. Bürgermeister oder lokale Vertreter halten Ansprachen, es gibt kleine Geschenke oder Erinnerungsfotos, aber vor allem gilt: Die festlich gekleideten jungen Menschen stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Oft reisen Eltern oder Großeltern mit an, fotografieren ihre Kinder und feiern anschließend gemeinsam im Familien- oder Freundeskreis. Neben dem offiziellen Teil hat sich eine zweite Bühne etabliert: die sozialen Medien. Auf Instagram, TikTok oder LINE werden Gruppenfotos, Selfies oder Making-of-Clips gepostet, oft mit Hashtags wie #seijinshiki oder #furisodejoshi. Besonders in Großstädten entstehen dadurch regelrechte Bild- und Stilwelten, die eigene Modetrends prägen. Doch nicht überall sieht der Tag gleich aus: In Okinawa tragen viele junge Männer statt Kimono das bunte Festgewand kariyushi, während in ländlichen Regionen die Zeremonien oft kleiner, familiärer und weniger inszeniert ablaufen.

Zwischen Kommerz, Kritik und Kreativität
Trotz der festlichen Stimmung bleibt der Seijin no Hi nicht frei von Kritik. Die zunehmende Kommerzialisierung des Feiertags mit teuren Leihkimonos, Stylingpaketen und Fotoshootings erzeugt sozialen Druck, der nicht selten auf den Schultern der Familien lastet. In manchen Fällen werden hohe Summen für einen einzigen Tag investiert, was zu Diskussionen über soziale Ungleichheit und Konsumverhalten führt. Gleichzeitig entstehen neue Formen des Ausdrucks: Manche junge Menschen entscheiden sich bewusst gegen den Kimono und tragen stattdessen westliche Kleidung oder genderneutrale Outfits. Andere greifen zu Secondhand-Kimonos, kombinieren diese unkonventionell oder gestalten sie selbst neu – etwa mit Accessoires oder bunten Haarfarben. Die klare Grenze zwischen „Tradition“ und „Mode“ verschwimmt dabei zunehmend. Der Seijin no Hi ist längst mehr als ein kollektives Fest – er spiegelt die Vielfalt heutiger Identitäten und Lebensentwürfe wider. Zwischen Tradition und Inszenierung, Stolz und Kritik, Uniformität und Individualität zeigt sich, wie junge Menschen auf ihre ganz eigene Weise heute ihren Platz in der Gesellschaft verhandeln. Der Kimono spielt dabei eine zentrale Rolle: als kulturelles Zeichen und als Projektionsfläche gesellschaftlicher Erwartungen.

Über die Autorin
Die Kulturwissenschaftlerin Carolin Becke hat ihre Doktorarbeit zum Thema Kleidung und Volljährigkeits-Rituale in Japan verfasst, mit einem besonderen Fokus auf den Seijin no Hi und den symbolischen Einsatz des Kimonos. Ein persönliches Highlight war für sie, ihre japanische Gastschwester von der Auswahl des Kimonos bis zum großen Tag begleiten zu dürfen. Auf ihrem Blog schreibt sie regelmäßig über die Geschichte, Bedeutung und zeitgenössische Praxis des Kimono: www.carolinbecke.com
Dieser Artikel erschien in der JAPANDIGEST Oktober 2025-Printausgabe und wurde für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.











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